Raketenwissenschaft Schwangerschaftsabbruch

Berlin – international Save Space
Das queer-feministische Kollektiv Ciocia Basia (Tante Barbara) aus Berlin hilft ungewollt schwangeren Personen aus Polen dabei, Zugang zu sicheren und straffreien Schwangerschaftsabbrüchen zu erhalten. “Jeden Tag antworten wir auf E-Mails, Facebooknachrichten und Anrufe von Personen, die sich nach der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland erkundigen. Wir vereinbaren Termine in Kliniken in Berlin, bieten Übersetzungsleistungen an, vermitteln Unterkünfte in den Häusern der Freiwilligen und unterstützen die Personen finanziell.

Der Zugang zu Abtreibung und sexueller Selbstbestimmung ist in Polen erheblich eingeschränkt und verschlechtert sich ständig: Verhütungsmittel sind schwer zugänglich, die Pille danach ist rezeptpflichtig, es fehlt an sexueller Aufklärung. Im Oktober 2020 hat das polnische Verfassungsgericht das schon vorher extrem restriktive Abtreibungsrecht weiter verschärft, so dass Schwangerschaftsabbrüche in Polen praktisch nicht mehr möglich sind. Auch die Pandemie hat für Pol*innen den Zugang zu Abtreibungen im Ausland erschwert. Ciocia Basia setzte ihre Arbeit fort und hat in den sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des Abtreibungsverbots 270 Personen bei der Planung eines Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland unterstützt, auf 3978 Mails geantwortet und 1462 Telefonate geführt.” lautet es in einem kürzlich veröffentlichten Spendenaufruf des Kollektivs. 

Ciocia Basia ist Teil von www.abortion.eu, einer Initiative von sechs Organisationen in mehreren Ländern, die zusammenarbeiten, um Frauen den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu Hause mit Pillen oder im Ausland in Kliniken zu ermöglichen.

DDR – undogmatisch
“Ich habe drei Mal abgetrieben” erzählt die ehemalige Bürgerrechtlerin Petra Lux. Nach der Wende reiste sie quer durch die Republik und befragte für Ihr Buch “Ohne uns ist kein Staat zu machen” Arbeiterinnen, Intellektuelle, ehemalige SED-Funktionärinnen und Feministinnen zu ihren Erfahrungen in der DDR und der Wendezeit. “Schwangerschaftsabbruch in der DDR war legal” konstatiert sie gegenüber la-presse.org. “Die Verfügung der Bundesrepublik Deutschland über den weiblichen Körper, so wir wie sie heute erleben, empfinde ich als extrem frauenfeindlich, es ist so, als würde Frauen die Eigenverantwortung entzogen”.  Heute bietet sie u.A. ganzheitliche Lebensberatung und Familienaufstellungen im Leipziger Gohlis an. “Abtreibungen und der Umgang damit sind dabei oft ein Thema.” 

Bundesrepublik Deutschland – ungewöhnlich unbestimmt
Der Schwangerschaftsabbruch im heutigen Deutschland hingegen ist kriminalisierend. Er ist im Strafgesetzbuch in den Paragraphen 218 und 219a geregelt und rangiert damit hinter Mord und Totschlag. Nur unter bestimmten Bedingungen ist es erlaubt, einen Abbruch vorzunehmen – aber es ist kein Recht. Wer in die Lage kommt, ungewollt schwanger zu werden, steht vor einer Reihe Problemen. Die Suche nach durchführenden Ärztinnen gestaltet sich, gerade in ländlichen Räumen, schwierig. Das Gesetz verlangt eine Pflichtberatung. Im Gesetzestext lautet es “Die Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.” Wie moralisch diese Beratung ausfällt, liegt maßgeblich an den Beratungsstellen. pro familia unterstützt die selbstbestimmte Entscheidung der Frau. Nach der Prozedur erhalten die Frauen eine Beratungsbescheinigung, mittels derer die Abtreibung durchgeführt werden kann.

Während Anzahl und moralische Ausrichtung der Beratungsstellen relativ transparent sind, gibt es zur Anzahl der Mediziner*innen keine Datenlage. Immer weniger Ärzt*innen in Deutschland führen Schwangerschaftsabbrüche durch. Für neue Mediziner*innen mangelt es an der Ausbildung im Studium – schließlich kann in staatlichen Universitäten keine Straftat gelehrt werden – ältere Mediziner*innen sind bereits in Rente oder stehen kurz davor. Die Versorgungslage scheint schlecht. Schon jetzt müssen ungewollt Schwangere lange Fahrt- und Wartezeiten für einen Abbruch in Kauf nehmen. Das erhöht die psychische, physische und finanzielle Belastung.

Nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz, welches Frauen zur Beratung vor einem Abbruch verpflichtet, sind die Bundesländer ebenfalls verpflichtet, ein ausreichendes Angebot an Praxen und Kliniken für Schwangerschaftsabbrüche sicherzustellen. “Ein vollständiger Überblick, wie viele Ärzt*innen in Deutschland an welchen Orten Schwangerschaftsabbrüche durchführen, existiert schlicht nicht” konstatierte die TAZ in einer bereits 2018 erschienenen Recherche. Lediglich Städte, in denen es politisch gewollt ist, behandeln das Thema Schwangerschaftsabbruch undogmatisch. Neben Berlin besticht auch die Stadt Leipzig mit umfassenden Informationen zu Beratungsstellen und Orten, an denen Abbrüche durchgeführt werden, hervor. Das ist zu wenig, finden wir. Der selbstbestimmte Abbruch mutiert für betroffene Frauen und gesamtgesellschaftlich allmählich zur Raketenwissenschaft.

Die Befragung zu Erfahrungen mit Schwangerschaftsabbrüchen soll nun, im Rahmen einer Recherchekooperation zwischen CORRECTIV.Lokal und la-presse.org, Transparenz schaffen. Interessierte können sich hier beteiligen: http://correctiv.org/dein-abbruch 

Weitere Informationen:

 

Bildquelle: “Women on Waves” /MS