Wie lässt sich über Israel und Palästina sprechen, ohne in der „Befindlichkeitsfalle“ der deutschen Debatte stecken zu bleiben? In der Galerie KUB traf sich im Rahmen der Reihe „Between the Lines“ ein Podium, auf dem persönliche Betroffenheit und analytische Schärfe zusammenkamen. Zwischen dem Schmerz über den 7. Oktober und der Wut über die Verengung des Diskurses wurde ein Abend sichtbar, der mehr war als eine intellektuelle Übung: Eine dringliche Bestandsaufnahme über die (Un-)Möglichkeit des Dialogs in einer zerrissenen Zeit.
Mehr als nur Meinungen
Es gibt Abende, deren Notwendigkeit man an der Stille im Raum erkennt, bevor das erste Wort gesprochen ist. Die Podiumsdiskussion über den deutschen Diskurs seit dem 7. Oktober war ein solcher Abend. In einer Stadt wie Leipzig, wo globale Konflikte unweigerlich auf lokale Realitäten treffen und Freundeskreise wie politische Bündnisse auf eine Zerreißprobe stellen, war das Thema mehr als nur eine intellektuelle Übung – es war eine dringliche Bestandsaufnahme.
Auf dem Podium saßen vier Personen, die den Graben, der die deutsche Gesellschaft durchzieht, nicht nur beobachten, sondern täglich durchqueren. Moderiert von Marie von der Beratungsstelle Ofek, trafen drei Perspektiven aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein konnten und doch einen gemeinsamen Fluchtpunkt fanden: Nadine Migesel, Tätowiererin, Aktivistin und Mitgründerin von „Palestinians and Jews for Peace“ sowie Mitarbeiterin beim Community-Projekt Sawra; Lili Zahavi, Dokumentarfilmerin und Bildungsreferentin im Projekt „Trialoge“; sowie Tom Khaled Würdemann, Dissertant für Jüdische Studien in Heidelberg, der den Nahostkonflikt aus wissenschaftlicher Warte analysiert und das Dialogprojekt „Take to Peace“ nach Deutschland brachte.
Der Abend warf eine zentrale Frage auf, die über die gesamte Diskussion schwebte: Wie kann in einer von Schmerz, Wut und einer spezifisch deutschen Selbstbezogenheit geprägten Debatte ein konstruktiver Dialog überhaupt noch gelingen?
Zwischen persönlichem Schmerz und analytischer Nüchternheit
Ein Raum für Wut, Trauer und radikale Empathie
Der Abend knüpfte an die erste Veranstaltung im Werk 2 an. Ziel war es, Menschen mit eigenen, teils persönlichen Erfahrungen heraus, flankiert durch wissenschaftliche Perspektiven eine linke, humanistische Position auf den Israel-Palästina-Konflikt zu entwickeln.
Lili berichtete vom Verlust einer Kollegin, die am 7. Oktober ermordet wurde, und von einem weiteren, der als Geisel freikam. Gleichzeitig schilderte sie ihre Frustration über die mediale Nachfrage nach einem „jüdischen Gefühl“, das sie zu einem „Pappaufsteller“ mache, der ausradiert wird, wenn er nicht ins erwartete Konzept passt. Sie fühle sich als „linke Israelin“ alleingelassen, auch von einer israelischen Zivilgesellschaft, die tief gespalten sei. Als Beleg dafür erzählte sie die erschütternde Geschichte ihrer 80-jährigen, säkularen Tante in Israel, die von orthodoxen Nachbarn verprügelt wird, weil diese Säkulare für die Geiselnahme verantwortlich machen.
Nadine beschrieb ein tiefes Gefühl der Entfremdung in Deutschland in den Wochen nach dem Angriff. Sie und ihre Freunde – palästinensische wie jüdische – fanden keinen Ort für ihre gemeinsame Trauer und Wut, weder auf pro-israelischen noch auf pro-palästinensischen Demonstrationen. Aus dieser Hilflosigkeit heraus gründeten sie die Initiative „Palestinians and Jews for Peace“, um einen eigenen Raum zu schaffen.
Diese persönlichen Bezugspunkte bildeten den unhintergehbaren Ausgangspunkt, von dem aus das Podium zur unbarmherzigen Diagnose des deutschen Diskurses überging.
Diagnose des Diskurses: Kritik an der deutschen „Befindlichkeit“
Ein zentraler Schwerpunkt des Abends war die unerbittliche Kritik an der deutschen Debattenkultur. Lili und Nadine äußerten eine tiefe Enttäuschung über die Zivilgesellschaft und insbesondere die Linke. Lili diagnostizierte eine „deutsche Kälte“ und eine „schuldabwehrende Selbstbezogenheit“, die aus der deutschen Gewaltgeschichte resultiere, aber nicht selbstkritisch sei.
Nadine dekonstruierte den häufig geäußerten Vorwurf der „Polarisierung“. Sie kritisierte ihn als bequeme Ausrede der deutschen Mitte, um keine Haltung einnehmen und sich nicht mit den realen Machtasymmetrien befassen zu müssen. Der Begriff verschleiere, dass es ein „staatlich befürwortetes Narrativ“ gebe, das auch mit polizeilicher Gewalt durchgesetzt werde. Die angebliche Neutralität der Mitte sei somit eine faktische Unterstützung des Status quo. Die Enttäuschung über die Linke, die plötzlich „staatskonform“ agiere und universalistische Werte aufgebe, war bei beiden spürbar.
Der rote Faden: Toms Plädoyer für intellektuelle Redlichkeit und Menschlichkeit
In diese emotionale und gesellschaftskritische Analyse brachte Tom eine wissenschaftliche Nüchternheit ein, die den Bogen von historischer Einordnung zu praktischer Friedensarbeit spannte und der Debatte eine neue Tiefe verlieh.
Tom zeigte sich „komplett desillusioniert von der globalen Linken“, da der Israel-Palästina-Konflikt seiner Analyse nach zum „größten Problem“ geworden sei, weil er sich zu einer „globalen Projektionsfläche“ entwickelt habe. Seiner Meinung nach werde der Konflikt nicht als lokaler Konflikt um Land oder als ethnischer Streit gesehen, sondern als „der entscheidende Weltkonflikt“.
Diese symbolische Aufladung stehe für globale Kämpfe und manifestiere sich in scharfen Gegensätzen wie „Westen gegen den Islam oder Islam gegen den Westen“, „arm gegen reich, stark gegen schwach“ und „die Unterdrückten der dritten Welt gegen den westlichen Imperialismus“.
Diese „ganz scharfe symbolische Aufladung“ führe dazu, dass die Menschen ihre Positionierung als „moralisch notwendig“ erachten und glauben, dadurch die Welt „zu einem besseren Ort machen“ zu können. Stattdessen sollten sich die Akteure auf die „Realitäten dieses Konflikts“ und die Menschlichkeit der Betroffenen konzentrieren, anstatt sich in „moralischen reinen Symboliken“ zu verlieren. Tom bezeichnete die globale Linke in diesem Zusammenhang als „komplett lost“.
Dekonstruktion der Kampfbegriffe
Tom nahm sich zentraler Kampfbegriffe wie „Siedlerkolonialismus“ und „Nakba“ an. Er erklärte, dass der Zionismus historisch betrachtet eindeutig siedlerkoloniale Elemente aufwies. Seine zentrale Frage lautete jedoch: „So what?“. Er zielte damit nicht auf eine Verharmlosung, sondern auf eine Einordnung. Indem er die Gewalt bei der Entstehung Israels mit der Gründungsgeschichte anderer moderner Nationalstaaten – wie Frankreichs, der Türkei oder des Iraks – verglich, hinterfragte er, warum ausgerechnet diese Form der Staatsgründung als einzigartig verwerflich dargestellt wird.
Gleichzeitig warnte er eindringlich davor, wie selbst positiv besetzte Konzepte wie „Empathie“ und „Völkerrecht“ ideologisch missbraucht werden können. Gerade im Antisemitismus, so seine Analyse, werde oft mit Wärme und Gefühl gegen eine vermeintlich „kalte, abstrakte Macht“ – früher das Kapital, heute der jüdische Staat – argumentiert. „Hinter dem Ruf nach Empathie verschanzen sich oft auch die Mörder“, so seine zugespitzte Warnung.
Die Grenzen des Dialogs in der Praxis
Wie tief die Traumata sitzen und wie brüchig der Dialog selbst unter besten Bedingungen ist, illustrierte Tom mit einer Anekdote aus seinem „Take to Peace“-Workshop in Heidelberg. Als eine kleine Gruppe eine Gegendemonstration veranstaltete, brach das fragile Gleichgewicht unter den israelischen, palästinensischen und deutschen Studierenden sofort zusammen. Sie fielen augenblicklich in ihre erlernten Bedrohungsmuster zurück:
• Ein jüdischer Teilnehmer fühlte sich bedroht und drohte seinerseits mit Gewalt.
• Palästinensische Teilnehmerinnen zogen sich aus Angst zurück.
• Eine jüdische Teilnehmerin erlitt eine Panikattacke aus Angst, ermordet zu werden.
• Eine palästinensische Teilnehmerin erlitt ebenfalls eine Panikattacke, als die Polizei eintraf, da dies in ihrer Lebensrealität im Westjordanland eine lebensgefährliche Situation darstellt.
Die Geschichte wirkte als Realitätsschock und demonstrierte, wie sich die tiefsitzenden Traumata des Konflikts nicht als debattierbare Meinungen, sondern als unwillkürliche, physiologische Reaktionen – Panikattacken, Drohgebärden – manifestieren, die kein deutscher Seminarrahmen eindämmen kann. Toms Perspektive verschob damit die Diskussion von einer reinen Anklage der deutschen Verhältnisse hin zur Suche nach einem fundamentaleren, menschlicheren Ansatzpunkt.
Fazit: Die Baseline ist das Überleben
Trotz aller Desillusionierung und scharfer Kritik war der Abend kein hoffnungsloser. Im Gegenteil, aus der Analyse der Probleme erwuchs ein konstruktiver Impuls.
Den zentralen Ausblick formulierte Tom. In der aktuellen Situation sei das oberste Ziel nicht die Einigung auf eine politische Lösung wie die Zwei-Staaten-Lösung, die er als „total irrelevant“ bezeichnete. Alle Panelisten waren sich einig, dass diese für die Menschen vor Ort zu einer leeren Formel geworden ist. Stattdessen müsse man eine Ebene tiefer ansetzen. Der grundlegende Konsens müsse sein, dass das „friedliche Zusammenleben beider Völker“ das Ziel ist. Alles andere sei sekundär. Seine abschließenden Worte hallten nach:
„Die bloße Idee, die andere Seite nicht töten und zerstören zu wollen, […] ist eigentlich jetzt sozusagen die Baseline.“
Diesen Gedanken ergänzten die Wünsche von Nadine und Lili nach mehr Selbstkritik und Ehrlichkeit innerhalb der jeweiligen solidarischen Bewegungen – sei es die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in pro-palästinensischen oder mit Rassismus in pro-israelischen Kreisen. Für eine Stadt wie Leipzig, deren Bündnisse und Freundschaften sich an ebenjenen Debatten zerreiben, könnte diese scheinbar kleine Forderung eine Grundlage für einen überfälligen Wandel der Debatte sein. /MS
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