Fluchthilfe – Eine legitime Form des Protests?

Stacheldraht, Zäune, Minenfelder, Langstreckendrohnen mit Echtzeit-Telemetrieübertragung und Wildtierkameras mit GPS Anbindung schotten die EU an den Außengrenzen ab. Häufig kommt es zu Polizeigewalt gegen Menschen auf dem Weg nach Europa. 

Fünf Jahre ist es inzwischen her, dass die EU mit der Türkei einen Deal über die Rücknahme von Flüchtlingen geschlossen hat. Das Abkommen sei ein „Flecken auf der Menschenrechte-Bilanz der EU“, sagt Imogen Sudbury vom IRC. Das IRC wurde 1933 auf Vorschlag von Albert Einstein gegründet, um Flüchtlingen vor dem Naziregime zu helfen. Seit 2015 soll es viele Aktivist*innen gegeben haben, die Fluchthilfe leisteten. Inzwischen sei von der Bewegung nicht mehr viel zu vernehmen – nicht zuletzt wegen den Einschränkungen der Corona-Pandemie.

Die Berichte zum Brand im Camp Moria, Push-Backs und Frontex motivieren Einzelpersonen dazu Fluchthilfe zu leisten. Wir begleiten sie dabei.

Schnapsidee Fluchthilfe
“Das Vorhaben ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee” sagt Marcel. “Wir wollten ein Kreuzfahrtschiff chartern, deren Auslastung wegen Corona ohnehin nicht gegeben ist. Aufgrund der rechtlichen Risiken mußten wir von der Idee Abstand nehmen und kleinere Brötchen backen. Dafür sollte es eine mediale Begleitung geben, die frühzeitig in unsere Prozesse eingebunden ist. Angefragte Medienvertreter*innen waren ernsthaft interessiert, deren Redaktionen sahen jedoch keine Verwendung der Geschichte für den breiteren Markt. Zudem der Aufwand an unseren Plena teilzunehmen und gleichzeitig Rücksicht auf die Sicherheitsbedürfnisse zu nehmen.” Das Sicherheitsbedürfnis scheint angebracht.

Das Team und sein Netzwerk gestaltet sich divers. Bei leicht erhöhtem Frauen*anteil, ist ein breites Spektrum der Berufslandschaft abgebildet – auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen wirken tatkräftig mit. Mobiltelefone bleiben den Plena Zuhause. Dafür gibt es analoge Pläne für jede denkbare Situation. Die unzähligen Reflektions- und Befindlichkeitsrunden wirken ermüdend – rückblickend jedoch sinnvoll. Als das Thema der medialen Begleitung fixiert werden soll, sondert sich ein Teil der noch lose wirkenden Gruppe ab. “Das Risiko ist zu groß”.

“Schmiergelder für korrupte Beamten” lautet der Hinweis eine*r Journalist*in aus dem öffentlich-rechtlichen mit hinreichender Balkan-Erfahrung. Eine Spenden-Kampagne auf Vorrat beinhaltet neben diesen Schmiergeldern auch Kautionszahlungen sowie Kosten für Rechtsanwält*innen. Damit “Niemand hinter Gittern versauern muß”, kommt kurz vor der Abfahrt die Kostenzusage für einen mittleren fünfstelligen Betrag. Fast muß dieses Geld, wenige Tage später, in Anspruch genommen werden.

Grenzüberschreitung – in mehrfacher Hinsicht
Unseren Plan, aus dieser Geschichte eine Videodokumentation zu produzieren, müssen wir aus Sicherheitsgründen verwerfen. Bis zu Sechsunddreißig Stunden, mit Zettel und Papier bewaffnet, zu dokumentieren lässt auch unsere Anspannung merklich steigen. 

Ob der Internationalität des Vorhabens ist dieses von englischen Begriffen und Anglizismen durchzogen. Während Mobiltelefone bei den Plena verbannt werden, spielen sie bei dem “Game” eine entscheidende Rolle. Mit der einen Hand werden die Koordinaten der Hiker, ihre “pick-up” und “drop-off-points” eingegeben, “interim destinations” hinzugefügt und die Umgebung auf Offline-Satellitenbildern gescannt. Mit der anderen Hand, und einem anderen Mobiltelefon, wird die Kommunikation mit den Teams realisiert. Als sich während der Fahrt herausstellt, dass Sim Karten der Hiker zwar in dem einen, jedoch nicht in dem anderen Land funktionieren, gibt es einen Austausch von Sim-Karten zwischen den Fluchtfahrzeugen “On the fly” – “immer in Bewegung bleiben” war der Rat eines Hikers, der mit Fluchthilfe bereits umfangreiche Erfahrung gesammelt hat.

Als ein olivgrüner Militärjeep aus einem Feldweg die Straße befährt, beschleunigt und die Sirene anwirft heißt es Stopp für ein Fahrzeug. Das gesamte Team arbeitet in einem Notfallszenario. Das „Safe-House“ darf, wegen potentieller Observation des mobilen Teams, nicht mehr direkt angesteuert werden. „Hiker“ im Fahrzeug werden zum greifbaren Risiko. Die Aktion droht, zumindest für einen Teil der Crew, zu scheitern.

Die Polizeibeamtin schaut sich unser Auto von außen an. Sie fragt uns nach einem oder zwei anderen Autos mit deutschen Kennzeichen. Wir zucken die Schultern. Sie schaut auf die Decke auf der Rückbank unter der sich zwei Hiker*innen verstecken.

(Reflektionen aus Fluchtfahrzeug I)

Border Crime – eine Frage der Perspektive
Der erste Eintrag zur Internet-Suche “Border Crime” führt direkt zur Grenzschutz Agentur Frontex. Dort lautet es sinngemäß: “Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass viele kriminelle Netzwerke polykriminelle Aktivitäten betreiben, indem sie ihrem „Dienstleistungsportfolio“ einfach den Schmuggel von Migranten oder den Menschenhandel hinzufügen.”

Tatort Balkanroute. Besonders 2015 war für viele Schutzsuchende aus Syrien, Afghanistan oder Irak der Fluchtweg über den Balkan die ersehnte Rettung. Mit der kompletten Schließung der Balkanroute Anfang 2016 wurden die flüchtenden Menschen in die Rechtlosigkeit gezwungen. Seit 2017 erhebt die Organisation Border Violence Monitoring Network Zahlen zu Push-Backs auf dem Balkan. Als Push-Back wird das Zurückdrängen von Migrant*innen von den Grenzen ihres Ziel- oder Transitlandes bezeichnet. Annähernd 14.000 Fälle wurden seitdem dokumentiert – was, laut Pro Asyl, jedoch nur einen Bruchteil des tatsächlichen Geschehens erfasst.

Obwohl wir – insbesondere in der Ägäis und an der kroatisch-bosnischen Grenze – seit geraumer Zeit beobachten können, dass nicht nur in Einzelfällen, sondern systematisch Menschenrechte verletzt werden, ist es unheimlich schwer bis unmöglich, dagegen juristisch vorzugehen. Weil es den Menschen an Unterstützung fehlt, und weil es sehr schwer ist, vor einem Gericht in einem Einzelfall eine Verletzung nachzuweisen. 

Und da auch die Regierungen, nicht zuletzt die deutsche Bundesregierung, keinerlei Interesse an der Aufklärung von pushbacks und an den Machenschaften von Frontex haben, bleiben diejenigen unbehelligt, die für Freiheitsberaubungen und für die Toten an den Außengrenzen verantwortlich – während diejenigen, die Schutz suchen, die Menschen aus Seenot retten oder an der Aufklärung der brutalen Grenzabschottung betreiben wollen, kriminalisiert werden.”

So der Rechtsanwalt Matthias Lehnert gegenüber la-presse.org. Er behandelte das Thema Push-Backs erst im kürzlich im Verfassungsblog.

Games of violence
Was mit Rechtsverstößen an den Außengrenzen gemeint ist, erschließt sich bei einem Blick in den Bericht “Games of violence” der Ärzte ohne Grenzen, dort lautet es unter Anderem: Die Mehrheit “hatte sichtbare körperliche Verletzungen, darunter Schnitte mit Rasierklingen und Messern, schwere Schläge, Nahrungs- und Wasserentzug, sensorische Deprivation. Der jüngste behandelte Patient war gerade einmal 12 Jahre alt.”

Was Push-Backs bedeuten, müssen auch unsere Fluchthelfer*innen mittelbar erfahren. Während der Aktion werden die Hiker im Grenzgebiet Kroatiens aufgegriffen und ihre drei, der insgesamt vier, Mobiltelefone zerstört. Schlafsäcke, Nahrung und Bargeld werden von der Polizei einbehalten. Durchnässt werden sie, in einer kalten Nacht, 20 Kilometer abseits der Grenze auf dem Hügel eines Berges von Bosnien-Herzegowina abgesetzt. Wir überlegen kurz den nächsten Versuch des Grenzübertritts mit der Kamera zu begleiten – und sehen davon ab.

Was als schwerer Rückschlag bei den Supporter*innen empfunden wird, den knappen Zeitplan der minutiös geplanten Fluchtroute in Verzug bringt, hätte mit einem Blick in Berichte des Border-Violence Network vorausgesehen werden können. Kroatien ist Spitzenreiter von Push-Backs. Selbst die österreichische Polizei soll sich, laut DER STANDARD, an illegalen Push-Backs beteiligen.

Human Rights Watch leitet aus der Praxis von Kroatien schon im Jahr 2019 konkrete, politische Forderungen ab: „Sollte die EU Kroatien in den Schengen-Raum aufnehmen, während Asylsuchende weiterhin brutal zurückgewiesen werden, gibt sie grünes Licht für weiteren Missbrauch“, so Lydia Gall, Expertin für Osteuropa und den Balkan bei Human Rights Watch.

Fluchtrouten

.

Die vier Hiker kommen allesamt aus dem Iran. Ihr Weg führt sie über die Türkei oder Griechenland, auf die Balkanroute, nach Bosnien Herzegowina. Irgendwo auf diesem Weg treffen sie mit den Supporter*innen zusammen und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Deutschland. Lihane hat ihren, in Deutschland lebenden Partner, seit mehreren Jahren nicht gesehen. Melanie und Hussain haben Familie in Deutschland. Azaam hat sich jahrelang als Fluchthelfer auf der Route über Wasser gehalten und möchte nun zur Ruhe kommen. Die Supporter*innen bekommen, bis zum endgültigen Zusammentreffen, regelmäßig Videos von den Hikern zugesendet. 

Ankunft in Leipzig
Kurz nach der Ankunft in Leipzig führen wir mit den Hikern Interviews. Eindrücklich schildern sie uns ihre Gedanken zur Rolle von Frauen auf den Fluchtrouten, Fluchtgründen, Polizeigewalt und Menschenhändler*innen sowie organisierter Fluchthilfe. (Youtube Untertitel für Übersetzungen aktivieren)


Fluchthilfe – eine legitime Form des Protests”
In einem aktuellen Artikel “Menschenschmuggel und das Paradox der Kriminalisierung von Solidarität” des slowenischen Wissenschaftmagazin “Two Homelands” diskutiert Prof. Jelka Zorn den Menschenschmuggel innerhalb des Europäischen Grenzregimes. Sie kommt zu dem Schluss, dass Solidaritäts-Praktiken Proteste dagegen sind, während Schmuggel die Auswirkung von gewaltsamen Grenzen sind. Dem streng wissenschaftlichen Beitrag sind wir mit einem Interview auf den Grund gegangen. (Youtube Untertitel für Übersetzungen aktivieren)

How-to-Fluchthilfe
Wir können auf die Frage nach der Legitimität von Fluchthilfe mit diesem Beitrag keine Antwort geben. In der Regierungserklärung zum 2015 geschlossenen EU Türkei Deal, spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel von einer Verbesserung des Grenzschutzes und gemeinsamer Bekämpfung von kriminellen Schlepperbanden. Volker Kauder (CDU/CSU) verteidigt in dieser Runde darauffolgend den Deal mit der Türkei und bezieht sich auf den Satz, dass “Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginnt”. Die Tatsache, dass sich Menschen weder vom Wording, noch von hohen Strafen, davon abhalten lassen die EU Außengrenzen zu überwinden gibt uns zu Denken. Während Frontex militärische Aufrüstung betreibt, planen die Supporter*innen selbstbewußt ihre nächsten Aktionen – “How-to-Fluchthilfe” Workshops auf Basis eines, jüngst von ihnen veröffentlichten, Leitfadens

Ich glaube es ist unglaublich bereichernd, auch für andere Aktivisti, zu erfahren wie so eine Aktion geplant und durchgeführt werden kann…”

(Reflektionen aus Fluchtfahrzeug II)

*Die Namen der Protagonist*innen wurden verändert. Audios nachgesprochen.

/ MF MS

Referenzen:
So nicht bestellt – Podcast