Quo vadis Pressefreiheit in der Bundesrepublik?

– Ein Fallbeispiel aus dem Alltag der Versammlungsberichterstattung –

Am 11.November 2021 versammelte sich in Gera die rechtsextreme Kleinstpartei „Neue Stärke“, wogegen sich ein zahlenmäßig überlegener und deutlich lautstärkerer Gegenprotest fand. Zahlreiche Journalist*innen dokumentierten die Proteste und boten teilweise sogar einen Liveticker an, die beiden Versammlungen wurden durch ein großes Polizeiaufgebot getrennt. Zum Schluss mussten die Teilnehmenden der extrem rechten Versammlung in einem Wanderkessel zu ihren Fahrzeugen gebracht werden, da die Polizei Thüringen auf Grund der Provokationen aus beiden Lagern wohl handfeste Auseinandersetzungen fürchtete.

Da auch die An- und Abreise zu einer Versammlung unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit bestehen musste die Abreise der Rechtsextremen von der Polizei so gewährleistet werden (vgl. Brokdorf-Beschluss – BVerfGE 69, 315); abgeleitet davon darf auch die Berichterstattung darüber nicht verunmöglicht werden. Auf dem „Parkplatz am Markt“ beschwerten sich jedoch die abreisenden Teilnehmenden bei der Polizei über einen Journalisten der die Szene dokumentierte; Maik und Annett Qu., Pascal Ch. und Sebastian R. erstatteten gleichlautende Anzeigen gegen Unbekannt wegen Verstoßes gegen das Recht am eigenen Bild.

Die Staatsanwaltschaft Gera hatte es leicht bei den Ermittlungen, denn auf die Beschwerde der Neonazis hin setzte sich eine Halbgruppe der Thüringer Polizei in Bewegung um den missliebigen Journalisten einer Identitätsfeststellung zu unterziehen. Zur Begründung der Kontrolle erklärte der kontrollierende Polizeihauptmeister die Maßnahme wäre nötig, „weil wir sie [die Nazis, Anm.] genau vor Ihnen schützen, in dem Moment gerade“.

Nachdem das BVerwG den Anzeigen nach §33 KunstUrhG einen Riegel vorschob empfehlen bzw. insinuieren die beiden großen Polizeigewerkschaften [DpolGGdP] zur Behinderung der Pressefreiheit nun Anzeigen wegen §201 StGB zu erstatten, denn dieser greift bereits deutlich früher. Denn während das KunstUrhG die Veröffentlichung kriminalisiert und der §201a StGB Aufnahmen in einer Wohnung verbietet ist der Abhörparagraph noch auf dem Stand des 19. Jahrhunderts. Matthias Monroy (Redakteur bei CILIP und nd) kritisiert die Zweckentfremdung des aus der Zeit gefallenen Abhörparagrapen im nd deutlich.

So auch im vorliegenden Fall: Der Journalist soll, so die Anzeige vom 17. Dezember 2021, eine Bodycam getragen haben und den – wenig schmeichelhaften – Clip am 11. Dezember 2021 um 16:15 Uhr auf dem Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlicht haben. Auch die Polizeivertrauensstelle am Thüringer Innenministerium wurde auf die polizeiliche Maßnahme aufmerksam, die Sachbearbeiterin Fr. Denstädt bat um Übersendung der Aufnahmen aus der Bodycam, versprach sich zu kümmern und war erfreut darüber, dass es Beweise gab.

Der die Anzeigen bearbeitende Beamte trat nicht an den Beschuldigten heran und gab den Fall an die Staatsanwaltschaft Gera ab welche am 24. Mai 2022 entschied die insgesamt vier Verfahren zusammen zu legen. Danach passierte: nichts.

An dieser Stelle daher nun ein kurzer, aber möglicherweise entscheidener, Exkurs in die thüringische Landespolitik:

Am 23. Dezember 2022 erklärte Umweltministerin Siegesmund ihren Rücktritt, zum Entsetzen des damaligen Justizministers wollte seine Partei aber nicht nur diese Position nachbesetzen, sondern auch ihn ablösen. Am 10. Januar 2023 wurde dann bekannt, dass die bisherige Sachbearbeiterin der Polizeivertrauensstelle Doreen Denstädt zum Monatswechsel den Dienst als Justizministerin antreten soll.

Aber nun zurück zum Fall, denn nur einen Tag später kam am 11. Januar 2023 Bewegung in die Angelegenheit: die Staatsanwaltschaft Gera übersandte den Akt nach Passau mit der Bitte um Übernahme, da der Tatort nicht in Thüringen läge, sondern in Passau. Bei freundlicher Auslegung scheint die Staatsanwaltschaft Gera nach über einem Jahr Ermittlungen nunmehr überzeugt zu sein, dass der Journalist die Fähigkeit des Beamens beherrscht, denn nach ihrer Schilderung soll er in nicht einmal ½ Stunde von Gera nach Passau gekommen sein; die „Abreise der Neonazis“ erfolgte laut übereinstimmenden Berichten erst kurz vor 16 Uhr.

Eine andere Auslegung wäre auf Grund des zeitlichen Koinzidenze einen Zusammenhang mit der Neubesetzung an der Spitze des Justizministeriums zu ziehen; denn eine Weisung das Verfahren einzustellen läge, auf Grund der vorherigen Verwendung der künftigen Justizministerin, nicht im Bereich des Unmöglichen.

Die Staatsanwaltschaft Passau übernahm das Verfahren, forderte vom anzeigenden Beamten noch eine Erklärung zur „faktischen Öffentlichkeit“ an und beantragte am 06. April 2023 beim Amtsgericht Passau einen Strafbefehl über 60 Tagessätze wegen „Verletzung der Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes“. Als Beweismittel dient neben der Aussage des thüringischen Polizeihauptmeisters ein „Facebook-Ausschnitt“ (obwohl das Video bei Twitter veröffentlicht wurde).

Der angeschuldigte Journalist legte Widerspruch gegen den von Richter Hutsch am 17. April 2023 erlassenen Strafbefehl ein, die Terminierung der Hauptverhandlung steht ein Quartal später weiter aus.

Meinung: Das ist er, unser Rechtsstaat.

Beschuldigte werden nicht konfrontiert; Beamte nutzen SLAPPs um die Pressefreiheit zu bekämpfen; Staatsanwaltschaften unterstützen sie dabei; Verfahren werden, um sie durchziehen zu können, auf Basis falscher Tatsachen durch die Republik verschoben; Richter lesen nicht was in den ihnen vorgelegten Strafbefehlen steht.

Da fällt dann fast schon nicht mehr ins Gewicht, dass der bayerische Polizeihauptmeister die Nazis zu Kollegen des thüringischen Polizisten macht.

Quo vadis Bundesrepublik? / Michi Kirchner