Der erste RAV-Kongress in Leipzig: Tag X wird als „Chronologie des Wahnsinns“ bezeichnet

Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. (RAV) veranstaltete am vergangenen Wochenende seinen ersten bundesweiten Kongress in Leipzig. Wir führten ein Gespräch mit Franziska Nedelmann, der stellvertretenden Vorsitzenden, über den Verein, den Bundeskanzler und die Ereignisse rund um Tag X in Leipzig.

Was ist der RAV?
Der RAV ist eine Anwältinnen-Organisation, die eine Standesorganisation ist und sich gleichzeitig gesellschaftspolitisch engagiert. Der RAV hat sich zum Ziel gesetzt, emanzipatorische politische Bewegungen zu unterstützen, indem wir Juristinnen und Anwältinnen das Recht als Waffe gegen Unterdrückungsverhältnisse einsetzen.

Das „Republikanisch“ im Vereinsnamen wirkt verwirrend.
Der Vereinsname wurde bei der Gründung mit Bezug auf die Weimarer Republik gewählt.Verwirrend ist doch nur, dass der Begriff von rechts besetzt werden soll. Für uns RAV´ler*innen heißt republikanisch, die radikale Demokratie zu verteidigen und auf dem Vorrang der Menschen- und Bürgerrechte gegenüber den Interessen staatlicher und wirtschaftlicher Macht zu bestehen.

In welchem politischen Umfeld wurde der RAV gegründet und warum?
Der RAV wurde 1979 gegründet, zur Zeit der Einschränkung der Verteidigungsrechte in den sogenannten RAF-Verfahren. Damals wurde das Verbot der Mehrfachverteidigung eingeführt und es gab zahlreiche standesrechtliche Verfahren gegen Kolleg*innen, die in den RAF-Verfahren verteidigten. Häufig erhielten diese Kolleg*innen keine Unterstützung von den Anwaltskammern. Im Gegenteil, die Anwaltskammern haben sich teilweise sogar gegen die Kolleg*innen gestelllt. Den Verteidiger*innen wurde vorgeworfen, die RAF zu unterstützen. Aus dieser Situation ergab sich die Notwendigkeit, die Bedeutung der Verteidigung deutlich zu machen. Ziel war es, Einzelne vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen und vor allem einen Missbrauch von Rechten durch den Staat einzudämmen.

Es ging also in dieser Zeit darum, eine anwaltliche Interessensorganisation aufzubauen, um gemeinsam die staatlichen Angriffe auf fortschrittliche Kolleg*innen abzuwehren und gleichzeitig Anwält*innen zu organsieren, die das Recht für Schwächere gegen staatliche Zumutungen einsetzen wollten.

Der Schwerpunkt lag dabei zunächst auf dem Gebiet des Strafrechts.  Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Aktivitäten zunehmend auch auf andere Rechtsgebiete ausgeweitet. Derzeit gibt es viele Initiativen im Migrationsrecht, wo die Situation wirklich besorgniserregend ist, sowie im Mietrecht. Wir hoffen, dass wir einerseits soziale Bewegungen unterstützen und andererseits eine emanzipatorische Entwicklung des Rechts vorantreiben können.

Dies ist der erste bundesweite RAV-Kongress. Was habt ihr euch davon versprochen und wurden die Erwartungen erfüllt?
Wir hatten alle ein unglaubliches Bedürfnis nach persönlichem Austausch. Gerade in diesen Zeiten, in denen Nationalisten und Rechtsradikale Zulauf bekommen und in denen law & order-Parolen sowie die Einschränkung von Bürger- und Menschenrechten die Politik bestimmen. Aufgrund der Corona-Jahre und der Tatsache, dass wir über ganz Deutschland verteilt sind, sind wir bisher selten zusammengekommen und haben selten über unsere eigenen Fachbereiche hinaus diskutiert. Es ist wichtig, dass wir uns mit rechtspolitischen Themen auseinandersetzen und darüber sprechen, wo es in verschiedenen Rechtsgebieten Parallelen gibt. Wo kämpfen wir ähnliche Kämpfe und können unsere Kräfte gebündelt einsetzen?

Unser Ziel war es, alle Einzelkämpferinnen, die in den Gerichten unterwegs sind, zu stärken. Wir möchten den Rechtsanwält*innen das Bewusstsein vermitteln, dass wir unsere Expertise und Kräfte bündeln können, um gemeinsam voranzugehen und unseren rechtspolitischen Einfluss zu vergrößern. Es gibt keinen Grund, an den unterschiedlichsten Krisen und frustrierenden Situationen, auch in den Gerichtssälen, zu verzweifeln.

Die Versammlungslagen um den Tag X in Leipzig waren hier spontan Thema im Programm. Was habt ihr dazu gemacht?
Die Ereignisse rund um Tag X waren uns natürlich nicht bekannt, als wir den Kongress geplant haben. Im letzten Jahr haben wir begonnen, den Kongress gemeinsam mit den Kolleg*innen aus Leipzig zu planen. Viele Kolleg*innen aus Sachsen haben uns berichtet, dass sie dort mit anderen Problemen konfrontiert sind als in anderen Bundesländern. Dass hier die politischen Bedingungen besonders problematisch sind. Daher dachten wir, es wäre toll, uns in Leipzig zu treffen. Das war der ursprüngliche Gedanke für den Kongress in Leipzig.

An der juristischen Aufarbeitung der Geschehnisse um den so genannten Tag X sind viele Mitglieder des RAV beteiligt und vertreten Betroffene in den Verfahren. Das Besondere an diesem Kongress war, dass wir eine bundesweite Vernetzung einleiten konnten. Die Leipziger Kolleg*innen können das alleine nicht stemmen, insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Vorkommnisse in Sachsen.

Eine Kollegin nannte es in ihrer Eröffnungsrede „Chronologie des Wahnsinns“, was völlig zutreffend ist. Insbesondere das polizeiliche Vorgehen im Zusammenhang mit dem Leipziger Kessel, die damit verbundenen massiven Verletzungen von Bürgerrechten, war auf unserem Kongress ein wichtiges Thema. Wir begreifen die Vorgänge im Zusamenhang mit der Einkesselung von mehr als 1000 Menschen als einen handfesten polizeilichen und politischen Skandal.  Es ist uns wichtig, hier eine öffentliche Gegenkraft aufzubauen und den staatlichen Lügen zu widersprechen. Gegen die Einschüchterung und das rechtswidrige Vorgehen muss eine Gegenmacht entstehen. Es ist klar, dass wir nicht zurückschrecken werden, sondern dass uns das anspornt, dagegen anzugehen. Zunächst war es wichtig, so viele Menschen wie möglich zusammenzubringen, um gemeinsam gegen die rechtswidrigen Einschränkungen und Verfahren vorgehen zu können.

Sind Mitglieder wie Otto Schily, Gerhard Schröder und Olaf Scholz noch dabei?
Otto Schily und Gerhard Schröder sind schon lange keine Mitglieder mehr. Ich glaube, Otto Schily war Gründungsmitglied des RAV. Damals war er Teil einer sehr progressiven  Gruppe um den Rechtsanwalt Werner Holtfort. Es handelte sich um Sozialisten, Sozialdemokraten und radikale Demokraten, die den RAV ins Leben gerufen haben. Olaf Scholz ist immer noch Mitglied, allerdings passives Mitglied. Wir denken, er sollte seine Mitgliedschaft überdenken. Seine Politik jedenfalls steht in deutlichem Widerspruch zu den Zielen des RAV. Das wurde nicht zuletzt deutlich, als er als Hamburger Bürgermeister den repressiven Ausnahmezustand beim G20-Gipfel im Jahre 2017 zu verantworten hatte und wahrheitswidrig behauptete, dass es keine Polizeigewalt gegeben hat. 

Zum Auftakt gab es ein Foto mit dem Transparent „GEAS abschaffen“. Die aktuellen Entwicklungen erinnern an die eindringlichen Worte des Schriftstellers Navid Kermani, anlässlich des 65. Geburtstags des Grundgesetzes, im Bundestag. Mit der Änderung von Artikel 16 gab es einen Paradigmenwechsel in der Asylpolitik. Kermani bezeichnete dies als „hässlichen, herzlosen Fleck“ – strahlt der nun, entgegen seines Wunsches, auf die Normen der europäischen Ebene aus?

Am Wochenende des Kongresses hatten wir auch eine ganze Seite in der TAZ, auf der wir uns mit einem offenen Brief gegen den Ausverkauf der Rechte von Schutzsuchenden aussprachen. Dies waren erste Reaktionen auf die Zustimmung des Rates der Innenministerinnen am 8.6.2023 zur „Gemeinsamen Asylpolitik in der Europäischen Union (GEAS)“.

Der gesamte Bereich des Migrations- und Asylrechts versetzt uns alle, wie auch auf diesem Kongress deutlich wurde, in eine Art Schockstarre. In solchen Momenten neigen wir dazu, das Handtuch zu werfen und zu sagen: „Wir können sowieso nichts tun.“ Aber die Stimmung auf diesem Kongress zeigt, dass wir nicht bereit sind, rechtssaatliche Grundsätze kampflos aufzugeben. Alle sagen: „Selbstverständlich, wer, wenn nicht wir?“

Der Beschluss des GEAS (Gemeinsames Europäisches Asylsystem) ist dramatisch. Es entstehen bewusst rechtsfreie Räume, aus denen wir als Anwält*innen herausgehalten werden sollen. Dadurch wird ein Zwei-Klassen-System für Menschenrechte geschaffen. Das beschäftigt uns derzeit sehr.

Wer, wenn nicht wir, die sowohl Expertise in den Verfahren haben als auch die Kraft haben, uns zu vereinen, sollte sich dem entgegenstellen? Die Energie, die auf diesem Kongress spürbar war, hat meine Hoffnung und Erwartungen an den Kongress sogar übertroffen. /MS

Zum Abschluss des Kongresses verabschiedeten die Anwesenden einstimmig, ohne Gegenstimme oder Enthaltung, folgende Resolutionen:

  1. Letzte Generation Resolution des RAV
  2. Asyl Resolution des RAV
  3. Iran Resolution des RAV

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