Buchbesprechung und paar eigene zeitaktuelle Gedanken zu: Widerständiges Wissen – Herbert Marcuses Protesttheorie in Diskussion mit Intellektuellen der Refugee-Bewegung der 2010er Jahre
„Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten.“
*Herbert Marcuse
Eine Erinnerung an die Vergangenheit mit subversivem Charakter betrifft den Urheber des Zitates aus heutiger Perspektive selbst. Die Subversion und der Aufbruch der Revolte 68 hat Geschichte geschrieben und diese Geschichte hat seine Autor*innen. Marcuse war einer davon. Das dokumentierte Wirken und die von ihm verfassten Schriften tragen Inhalte, die als gefährliche Einsichten über die Gesellschaft bezeichnet werden können. In ihrer zeitlosen Verewigung tragen sie immer noch als Gedächtnis und als Anspruch an die Gegenwart ein Glimmen in sich. Diese an die richtigen Subjekte vermittelt, könnte sich das Glimmen vielleicht zu einem subversiven Flächenbrand entwickeln, der die besagte, etablierte Gesellschaft zum Beben bringt.
Diesen Ansatz der Vermittlung eines widerständigen Wissens vergangener Bewegungsgeschichte nahm Lisa Doppler im Rahmen ihres Aktivismus wahr. In ihrer Promotionsarbeit „Widerständiges Wissen – Herbert Marcuses Protesttheorie in Diskussion mit Intellektuellen der Refugee-Bewegung der 2010er Jahre“ dokumentiert sie diesen Prozess und erweitert gemeinsam mit den Diskussionspartner*innen dieses Wissen. Sie diskutiert mit organischen Intellektuellen[1] der Refugee-Bewegung Textstellen aus Schriftstücken von Marcuse, setzt diese in den praktischen Kontext vergangener Geschichte und reflektiert diese zusammen mit den Gesprächspartner*innen in deren jetzigen Praxis. Als hauptsächliche Interview- und Gesprächspartner*innen dienten ihr Intellektuelle unter anderem aus Berlin im
Bezug der Oranienplatz Besetzung, aus München aus der Gruppe „Refugee Struggle for Freedom“ welche im Zusammenhang der Non-Citizen-Theorie stehen, aus Wien des Protestmarsches Geflüchteter aus dem Lager Traiskirchen und aus ihrer ehemaligen Osnabrücker Gruppe No Lager. Hierbei traf sie sich explizit mit den Personen:
Turgay Ulu, ein marxistischer Journalist, geflüchtet aus der Türkei.
Bino Byansi Byakuleka aus Uganda, Mitbegründer der African Refugees Union.
Napuli Paul aus dem Sudan, Menschenrechtsaktivistin und Gewaltfreiheitstrainerin.
Narges Nasimi, eine Marxist-Leninistin aus dem Iran und mit Arash Dosthossein ebenso marxistischer Iraner.
Im Weiteren mit der marxistischen Feministin und Schriftstellerin des Buches „Solidarität als Übersetzung“ Monika Mokre, des Weiteren mit Mohamed Numan, Aktivist und Geflüchteter aus Pakistan und zuletzt mit dem leider Anfang 2022 verstorbenen Hassan Numan, geflüchteter Sudanese, Kommunist und Aktivist im Netzwerk „We’ll come united“.
Die Auswahl ihrer Gesprächspartner*innen, Personen die durch ihren POC Background und Aufenthaltsstatus in der bestehenden Gesellschaft als „Randgruppe“ zugeordnet werden, führt in sich direkt in die theoretische Auseinandersetzung mit Marcuse, denn er attestierte gewissen Gruppen eine besondere Rolle innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse zu und so wurde auch diese Rolle der eigenen Situation mit dem Gesprächspartner*innen anhand eines Zitates aus der Schrift „Der eindimensionale Mensch“ diskutiert:
„Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und Aussenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewusstsein. Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb nicht durch das System abgelenkt; sie ist eine elementare Kraft, die die Regeln des Spiels verletzt und es damit als ein aufgetakeltes Spiel enthüllt.“
In den dokumentierten Diskussionen über dieses Zitat, entwickelten sich interessante theoretische Auseinandersetzungen, da sie gegenüber der alten orthodoxen marxistischen Klassentheorie eines revolutionären Subjektes, des Industrieproletariat, eher die unterschiedlichen Rollen von Subjekten in ihrer sozioökonomischen Herkunft begutachten, wie sich diese in Bewegung verbinden, veräußern und Aufbrüche erzeugen konnten und können.
Aber nicht nur marginalisierte Gruppen spielen bei Marcuse eine besondere Rolle, sondern privilegierte Gruppen wie Studierende, die durch ihre Lage, Zeit zum Nachdenken über die Verhältnisse finden können. Die Diskussionen um diese Randgruppentheorie gestaltet sich zwischen den Interviewpartner*innen und Lisa sehr spannend, denn diese gehen weg von der Bestimmung eines revolutionären Subjektes und beschäftigen sich meines Erachtens mehr damit wie aus unterschiedlich sozioökonomischen Klassen ein explosives subversives Gemisch entstehen kann. Weiterführend darauf, kommen diese in eine Debatte, die die problematischen Spannungen dieser unterschiedlichen sozioökonomischen Subjekte beleuchtet. Hierbei wird auch das Problem von systemischer Integration von Bewegungen durch gewisse materielle und geistige Eindimensionalität beleuchtet. Die Auseinandersetzung über diese Eindimensionalität ist sehr aufschlussreich, denn hier wird etwas aufgezeigt was auch sehr aktuell bei jetzigen Bewegungen zu beobachten ist, die sich von links-öko-liberalen Parteien und NGO‘s einspannen lassen, weshalb ich dessen auch noch einmal sinnvoll erachte dies hier tiefgründiger an aktuellen Zuständen auszuführen und mit eigenen Gedanken zu ergänzen:
Es wird hier offengelegt wie durch materielle Einbindung durch Positionen in Politik, Vereinen oder anderen beruflichen Angeboten das subversive Begehren von möglichen revolutionären Akteur*innen für das herrschende System funktional in Elendsverwaltungsarbeit, Regierungsarbeit oder ähnlichen kanalisiert wird. Hierzu bedarf es aber nicht nur einer Form des materiellen Angebotes, sondern benötigt einen Schein des Guten und dies bewerkstelligt sich in Form der geistigen Komponente des sogenannten eindimensionalen Denkens. In eigenen Worten zusammengefasst kann man das eindimensionale Denken so beschreiben, dass über Ideologie lastige Begriffe in der Sprache Menschen funktional und operational für die bestehenden Verhältnisse eingebunden werden. Einerseits geschieht dieses durch falsche
Attribuierung, wie z.B. gegenwärtig imperialistische Außenpolitik das Label „Feministisch“ durch die Charaktermaske Analena Baerbock aufgesetzt bekommt oder etwas unscheinbarer, die Übernahme von Begriffen und Wertausdrücken aus dem ideologischen Repertoire der bürgerlichen Gesellschaft deren inhaltlicher Widerspruch nicht aufgedeckt, also ihr Inhalt nicht begriffen ist, aber im Gebrauch durch Medien und gesellschaftlich stark positionierte Akteure wie Politiker*innen oder großer Konzerne positiv konnotiert ständige unreflektierte Wiederholung erfahren. Das führt so weit, dass selbst in manch linken Kreisen Werte wie Freiheit, Menschenrechte, Toleranz, Gleichheit vor dem Gesetz und viele weitere gutbürgerliche Werte die durchgesetzt einen ideologischen materiellen Inhalt zur Erhaltung der kapitalistischen Verhältnisse beinhalten, einen positiven Einzug im Sprachgebrauch finden.
Ironischerweise ist bei der eindimensionalen Betrachtung von gutbürgerlichen Werten Marcuse und auch explizit der Kreis der Frankfurter Schule nach meiner Einschätzung nicht ausgenommen, da sie aus manchen dieser Werte ein unabgegoltenes Versprechen einer besseren Welt herauslesen und teils darüber in den gegebenen Verhältnissen für das bessere Übel eintraten, auch wenn sie so manche Heuchelei der Herrschenden an diesen Werten fest machten. Unter dem besseren Übel sind z.B. die bürgerlichen Demokratien des Westens gemeint, welchen noch zugutegehalten wird, dass sie im bürgerlichen Rahmen gewisse Freiheiten zulassen. Dabei wird aber völlig außer Acht gelassen, dass diese bürgerlichen Demokratien mit ihrem Menschenrechtsimperialismus, wie anständige Herrschaft zu funktionieren hat, die Zustände durchsetzen, welche in anderen Regionen durch die Durchsetzung der Freiheit des Kapitals zu katastrophalen Zuständen mit dementsprechend autoritäreren Herrschaftsstrukturen führen und gleichzeitig darüber im Systemvergleich als besseres Übel sich legitimieren. Wobei angemerkt werden sollte, dass dieser Vergleich in so manchen Fällen mehr auf Ideologie basiert, als der objektiven Wahrheit entspricht, wenn man sich z.B. anschaut, wie sich China und die USA gegenseitig Berichte über die Menschenrechtslage in deren jeweiligen Ländern vorhalten oder die „Diktatur“ Russland und die „Demokratie“ USA mal ernsthaft auf Basis bürgerlicher Werte deren Strafsystem, Parlament und Wahlsystem vergleicht. An diesem Hochhalten des besseren Übels kommt die radikale Linke auch seit einiger Zeit nicht drüber hinaus. Das fängt an bei der Bestätigung des herrschenden Systems an der Wahlurne, um die Demokratie vor den Rechten zu schützen, bis hin zur Parteinahme für bürgerlich demokratische Staaten und Werte in jeglichen inner- und außerstaatlichen Konflikten. Explizit kann man das eindimensionale Denken an diesem Punkt extrem feststellen, wenn man Demokratie als die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft1 dekonstruiert und das Attribut „demokratisch“ offen ablehnt. Denn das kommt selbst in linken Kreisen dem Schlachten einer heiligen Kuh gleich. Als wäre das ein großer Fortschritt, wenn irgendwelche Charaktermasken um einen Job mit vorgegebenen Herrschaftsstrukturen und Kostenrechnungen im Wettbewerb um die Stimmen des untergebenen Volkes buhlen. Wobei die Zwangsabstraktion Volk in sich Individuen fasst, welche durch die ökonomische Ordnung, sichergestellt durch die demokratische Grundordnung, in jegliche gewaltvollen Gegensätze gestellt sind, was sich dann auch abstrakt widerspiegelt in einer Wahl der Herrschaft, meistens verkörpert in einer absurden Koalition, die einen faulen Kompromiss in den Gegensätzen, ausgerichtet für den nationalen Erfolg, herstellen soll. Begleitet wird das dann von einer dauerunzufriedenen Opposition, die den Weg zu dem Erfolg bezweifelt aber jegliche vorgegebene Geschäftsordnung der Herrschaft affirmiert.
Kurz um, ein ziemlicher Zirkus, der in der ökonomischen Krise und daraus folgenden verschärften Staatenkonkurrenz auch mal auf Grundlage bürgerlicher Denkweisen anfällig für einen faschistischen oder autoritären Anstrich ist.
Als ein Aktuelles schwerwiegendes Beispiel, was sprachlich zu einer materiellen Subsumtion von Bevölkerungsmassen, auch Linke, unter einer staatlichen kriegerischen Auseinandersetzung führt, kann man den positiven Bezug auf das Völkerrecht benennen. Dieses Recht ist auf der Ebene der Staatenkonkurrenz nicht wirklich durchgesetzt, denn die mögliche höhere durchsetzende Gewaltinstanz gibt es nicht und im Streitfall von Nationen gibt es nur die Staaten und Staatenbündnisse selbst als entgegengesetzte Gewaltsouveräne. Hierbei entfaltet sich das definierte Völkerrecht aber als ein moralisches Geschütz, wie es am Ukraine Krieg zu beobachten ist: Der Westen schafft es im Namen der Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes und dem Plädoyer der Verteidigung einer freiheitlich demokratischen europäischen Wertegemeinschaft, die ganzen untergegebenen Volksmassen für den Krieg gegen Russland zu mobilisieren. Umgekehrt analog dasselbe bei Russland, einerseits wird sich historisch im Bezug der Sowjetunion und andererseits auf die Separatisten des Donbass auf das
Selbstbestimmungsrecht berufen und in Sowjetmanier das alte Lied des „antifaschistischen“
Vaterländischen Krieges gespielt. Begrifflich ignoriert ist hierbei das dieses Selbstbestimmungsrecht in sich einen tiefst rassistischen Inhalt durch die völkische Definition besitzt, der den Ausdruck ein Blut und Boden Ideologie beherbergt und als Rechtsanspruch jeglichen Staat, je nach Auslegung mit oder ohne Zuspruch der UN, sich im Recht zur Anwendung von Gewalt legitimiert sieht. Empfehlenswert zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Völkerrecht und Krieg in der Ukraine sei der Podcast „Über das Völkerrecht“ von 99 zu1 mit Freerk Huisken[2] nahegelegt.
Kurz um, wie es hier umfangreich ausgeführt wurde, gibt es innerhalb der gedanklichen Auseinandersetzung mit einigen Thesen von Marcuse die auch im Buch aufgefasst und diskutiert werden, viel zu lernen und schafft eine Grundlage im Jetzt das eindimensionale Denken für einen reflektierten Bewegungsaktivismus zu durchbrechen. Wie profitabel die theoretische Auseinandersetzung in Bewegung ist, zeigt Lisa Doppler auch an praktischen Beispielen, wo in einem Fall Geflüchtete ihre praktischen Widerstandshandlungen gegen die staatliche Gewalt mit Thesen von Marcuse zur repressiven Toleranz gegenüber der bürgerlichen
Presse verteidigten, dadurch in ihrer Position nicht klein beigaben und die strukturelle Gewalt von Seiten des Staates aufzeigten.
In der Diskussion nicht abgeschlossen und auf den richtigen Kern gebracht halte ich einige historische Betrachtungen zur Militanz in den 68ern, sowie vertretene psychoanalytische Thesen von Marcuse und deren Rezeption von Seiten Lisa‘s.
So wird in dem Kapitel „Radikalität der Mittel“ ein Zitat aus der Schrift zur Repressiven Toleranz im Bezug der Äußerung von Gegengewalt unterschiedlicher Gruppierungen diskutiert:
„Ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein „Naturrecht“ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen – nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen. Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Einhalt zu predigen.“
Von diesem Zitat aus führt Lisa eine Diskussion mit den jeweiligen Intellektuellen der Refugeebewegung über die Form eines Widerstands gegen die herrschende Gewalt. Die Diskussion greift meines Erachtens hier auch erstmal einen richtigen Punkt auf, nämlich dass die herrschende Gewalt eine konstante unterdrückende ist und die Gewaltfrage gerichtet an Unterdrückte einen chauvinistischen Standpunkt hat, denn erstmal wird ihnen systematisch Gewalt angetan, wenn man sie in Lager oder Gefängnisse steckt, in prekären Verhältnissen nötigt, rassistisch behandelt und zurück in eine lebensbedrohliche Umwelt abschiebt. Das dementsprechend Widerstandshandlungen gegen diese Praxis nicht einfach als willkürliche Gewalt betrachtet werden können, sondern ein Bruch mit der herrschenden Gewalt darstellen. Aus diesem Sachverhalt hat die Gewaltfrage gerichtet an solche Subjekte, die bestimmt kein Interesse haben in einer Auseinandersetzung Schaden zu nehmen, immer den Charakter, dass das Beklagen der Gewalt schon in Ordnung geht, aber nur solange das praktische Bekenntnis zur staatlichen Gewalt bleibt und eine aktive Praxis sich dieser nicht widersetzt.
Ab dem Punkt, wo es um die Frage geht, ob anhand des Zitates unterschiedliche vergangene Gegengewalt moralisch oder im Hinblick einer linken Machtübernahme legitim war, sehe ich noch dringend weiteren Diskussionsbedarf. Denn anstatt einer tiefgreifenden historischen Analyse des Phänomen eines Übergang der 68er Bewegung in vereinzelte bewaffnete Gruppen verfällt die Diskussion und Ausführung über die Radikalität der Mittel in eine regelrecht unnötige und uninteressante Verteidigungsrede Marcuse frei zu sprechen von der Unterstellung er würde Gewalt der Linken, hier explizit die der Stadtguerilla Gruppen wie z.B. der Roten Armee Fraktion (BRD) und Weather Underground (USA), generell gutheißen, wobei meines Erachten es zudem zu logischen Widersprüchen kommt, die noch des weiteren Klärungsbedarfes benötigen und hier eine mögliche Spannende Analyse eines besonderen historischen Phänomens verpasst wurde.
So heißt es fortführend an paar Stellen im Kapitel:
„Für ihn (Marcuse) ist die Frage der Gewalt in erster Linie eine Strategiefrage, nicht eine der Legalität. 1965 stand unter dem Eindruck der antikolonialen Befreiungsbewegungen – also Bewegungen, die zum einen Mehrheiten hinter sich versammelten und denen zum anderen keine anderen wirksamen Mittel zur Verfügung standen. Von der Unterstellung, Marcuse würde Gewalt der Linken generell gutheißen, musste er sich insbesondere im Kontext bewaffneter Gruppen wie Rote-Armee-Fraktion (BRD) und Weathermen (USA) in den 1970er Jahren oftmals distanzieren. […] Es sind Fehlinterpretationen, wenn seine Aussagen die unter dem Eindruck antikolonialer Revolutionen oder Selbstverteidigung etwa durch die Black Party for Selfdefense in den USA fielen, von privilegierten Weißen als Rechtfertigung für Terroranschläge und Entführungen benutzt werden.“
Was hier einfach ohne genaue Betrachtung vorweggenommen wird, ist einerseits das danach diese Stadtguerilla Gruppen offensichtlich keine richtige und taugliche Strategie gehabt hätten, für ihre Ziele doch andere Mittel zur Verfügung standen und keine Mehrheit hinter sich versammeln konnten. Dem gegenüber wird dann gestellt, dass bei den antikolonialen Befreiungsbewegungen und der Black Panther for Selfdefense (BPP), dieses im Ganzen oder zum Teil doch zutraf. Alle diese Punkte sehe ich in beiden Fällen nicht für so geklärt, wie sie hier dargelegt werden: Denn welche Strategie mit welchem Ziel war hier nicht richtig? Welche Mittel standen damals den für diese Ziele zur Verfügung? Woher wurden diese Mehrheiten aus welcher Bevölkerungsmasse (die Heimische? die Schwarzen?) her abstrahiert?
Des Weiteren, in was bestanden die Fehlinterpretationen der Aussagen die als Rechtfertigungen hinzugezogen wurden für die Aktionen, welche von diesen Stadtguerilla Gruppen ausgingen?
Außerdem in was waren die „Weißen“ noch so privilegiert, nachdem sie einen knallharten Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen und ihr ganzes Leben für eine andere Welt in die Waagschale geworfen haben und warum ist das relevant welche Hautfarbe die Akteure haben?
Zudem entsteht hier eine Isolierte Betrachtung der Stadt-Guerilla Gruppen ohne Erklärung ihrer Entstehung, wobei das betrachtet im Kontext der „Randgruppen“-Theorie spannend wäre, da es im historischen Verlauf mit der BPP und den antikolonialen Befreiungsbewegungen regen Austausch und ein praktisches Wechselverhältnis gab. Unerwähnt ist nämlich auch, dass die BPP ab 1967 bis 1970 40 getötete Mitglieder und 85 Schwerverletzte verzeichnete, der BBP Vorsitzende Fred Hampton von der Polizei ermordet und zig Mitglieder in den Knästen saßen. Kurz um, die BBP immer mehr in eine Handlungsunfähigkeit versank, wie es sich an der Spaltung 1971 und dann 1986 der kompletten Auflösung zeigte. Weather Underground trat hier erst mit radikalen Aktionen nach dem Mord an Fred Hampton als Antwort darauf in Erscheinung. Passend dazu sei, um die Kritik mal andersrum aufzuzeigen, aus dem Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion zitiert:
„[…] Das Schicksal der Black Panther Partei und das Schicksal der Gauche Proletarienne dürfte auf jener Fehleinschätzung basieren, die den tatsächlichen Widerspruch zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit und dessen Verschärfung, wenn Widerstand organisiert in Erscheinung tritt, nicht realisiert. Die nicht realisiert, daß sich die Bedingungen der Legalität durch aktiven Widerstand notwendigerweise verändern und daß es deshalb notwendig ist, die Legalität gleichzeitig für den politischen Kampf und für die Organisierung von Illegalität auszunutzen, und daß es falsch ist, auf die Illegalisierung als Schicksalsschlag durch das System zu warten, weil Illegalisierung dann gleich Zerschlagung ist und das dann die Rechnung ist, die aufgeht.“[3]
Was wäre auf diese Kritik die Antwort?
Ich sehe auch eine Verfehlung einer Kritik an diesen Gruppen, weil sie Teils in ihren Handlungen nur auf ihre Herkunft reduziert werden, dass sie nicht für die Revolution in „ihren“ Staat sorgten. Es wird hier der internationale Charakter unterschlagen, der ja gerade in der
Parole „die 2te antiimperialistische Front in den imperialen Metropolen aufbauen“ zum Ausdruck kam und dementsprechend in diesem Kontext wirksame Aktionen ausgingen und nur in ihrem internationalen Kontext nachvollzogen werden können.
Weiter heißt es:
„[…] Gewalt sollte also nur in Erwägung gezogen werden, wenn sie die Kräfteverhältnisse voraussichtlich zugunsten der eigenen Seite verbessert, Solidarisierungen bewirkt und Räume öffnet, nicht schließt. Gewalt einiger Weniger und in einem Kontext, in der diese von der großen Mehrheit als völlig illegitim empfunden wird, kann Marcuse nicht gutheißen. Dass er durchaus auch aus eigener Erfahrung sprach, lässt sich mit dem Hinweis auf 1918 verdeutlichen. Marcuse selbst war als Mitglied eines Berliner Soldatenrates an der Verteidigung gegen die konterrevolutionären Freikorps beteiligt. Eben weil Marcuse einen realen Revolutionsversuch, der immerhin das Kaiserreich in eine Demokratie verwandelte, miterlebt hat, konnte er 50 Jahre später viel genauer als seine Studierenden zwischen einer Revolutionären und einer nicht-revolutionären Situation unterscheiden, was er in Debatten auch konsequent tat.“
Hier wird Marcuses Verständnis für eine Revolutionäre Situation mit seiner Erfahrung mit der Abschaffung des Kaiserreiches in Verbindung gebracht. Neben dessen diese ach so bessere Demokratie dann in einer demokratischen Wahl im Faschismus geendet ist, stellt sich die Frage, inwiefern eine Revolution zu Kaiserreich Zeit vergleichbar ist, mit einem Revolutionsversuch innerhalb einer Imperialen Metropole die ihre Herrschaft als bürgerliche Demokratie konstituiert hat? Die indirekt auch erklärt bei Marcuse in der Eindimensionalität des Menschen, es schafft eine Mehrheit der Bevölkerung in das nationale Erfolgsprogramm zu integrieren und es zu Stande bringt ihre Herrschaft in einem für die Mehrheit nicht nachvollzogenen Widerspruch zu präsentieren, in der das erleidende beherrschte Subjekt „Volk“ sich gleichzeitig selbst als Subjekt der Herrschaft betrachtet und dementsprechend überwiegend als ihre verteidigt. Ich bezweifle in dem Punkt auch das diese Kritik in Anlehnung des damals schon vorhandenen Verständnisses einer nicht vorhandenen revolutionären Situation fortführend Erkenntnisfördernd ist, wenn es den Gruppen selbst bewusst war, wie man es z.B. in der
Erklärung der RAF entnehmen kann: „Das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion basiert nicht auf einer optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und Westberlin“
Ich denke eine genauere Analyse der bewaffneten Gruppen und ihren internationalen Charakter ihres antiimperialen Kampfes, der sehr wohl nach dem Zusammenbruch der 68er Bewegung den grundsätzlichen Dissens gegenüber der Imperialen Ausbeutung in den Metropolen aufrechterhielt und den Raum schaffte, dass der Kampf antikolonialer Befreiungsbewegungen nicht einfach auf Basis des Erfolges auf dem Weltmarkt, in dem sich auch so mancher 68er
Student gut einrichtete, ignoriert werden konnte. Dies zu behaupten, würde Stammheim darauf reduzieren das Taten einer kleinen unbedeutenden kriminellen Gruppe verhandelt wurden und ignorieren, dass die RAF einen internationalen beachteten Gegenprozess führte, in dem sie die BRD anhand ihrer Anschlagsziele damit öffentlich konfrontierte, dass deutscher Boden für Stützpunkte herhielt, von denen wie in Heidelberg Flächenbombardements koordiniert und der nötige materielle Nachschub organisiert wurde und ihren Prozess im Verweis, dass sie auf
Basis des Völkerrecht verhandelt werden müssten, ad absurdum führten. Für eine umfassendere Schilderung des Prozesses sei Jutta Ditfurth Biografie über Ulrike Meinhof [4] nahegelegt. Ähnlich verhält es sich bei Weather Underground die nur eine von zahlreichen illegalen
Gruppen in den USA war, welche nicht nur ideell, sondern auch praktisch bis Anfang 1980 die US-Gesellschaft und Regierung mit um die über 150.000 Anschläge im Kontext zu antikolonialen Kämpfen und Rassendiskriminierung konfrontierte.[5]
Ich glaube die Frage nach der Revolution in diesen Metropolen sollte sich deshalb nicht damit beschäftigen, ob eine Mehrheit in diesen separaten Herrschaftsgebieten möglich ist, sondern wie eine internationale verknüpfte Mehrheit für den richtigen revolutionären und praktischen Moment (Kairos) möglich ist. Denn zugegeben sei, wie es Ela Rollnik (Bewegung 2.Juni) in ähnlicher Art formulierte, dass die bewaffneten Gruppen praktisch und theoretisch im antiimperialen Kampf erstarrten, bei dem am Ende nicht mal das blieb und nur noch die bewaffnete Form, einen Bruch mit dem Bestehenden ohne politisch und sozial tragenden Inhalt, der Emanzipation vom Alten und eine befreite Gesellschaftlichkeit darüber hinaus vermittelt hätte.[6]
Abschließend zu diesem Teil sei also gesagt, dass hier die Debatte unter Berücksichtigung der gestellten Fragen fortgeführt werden muss, wenn ein neuer Ansatz eines Bruches mit dem Bestehenden erfolgreich werden soll und welche Mittel dafür von Nöten seien.
Um zurück auf den Einwand gegenüber den psychoanalytischen Thesen zu kommen sei angemerkt, dass hier, auch weil der Interviewpartner Arash Dosthossein Vorbehalte gegenüber diesen angemeldet hat, sowie auch Ulu mit ihm einig ist, dass eine positive Veranlagung und vorgesellschaftliche Determination des Menschen nicht bestehen, Schade ist, dass die Diskussion mit ihnen nicht tiefer intensiviert wurde. Denn ich bemängele auch bei einem Marcuse das Aufgreifen der bürgerlich Psychologischen Erklärungsmuster, um diese
Schablonenartik mit einem Marxismus zu verbinden zu wollen, denn meines Erachtens führt
dieses zwangsläufig chronisch zu widersprüchlichen Aussagen. Ich denke, dass aus dem Kreis der Kritischen Theorie die größten Gedankenfehler auf der Basis des freudomarxismus basieren, denn sie abstrahieren über diese Modelle jedes Mal fern ab vom Gegenstand der Gedanklichen Prozessen.
Da dieses eine Umfangreichere Kritik dessen den Rahmen sprengen würde sei auf die Lektüre von „Albert Krölls-Kritik der Psychologie“[7] verwiesen und hier nur kurz an einer vertretenden These im Buch von Lisa veranschaulicht was gemeint ist:
„Aufgrund der existierenden Verhältnisse herrsche eine konterrevolutionäre Triebstruktur vor, eine zweite Natur des Menschen, die das Interesse am System befördere. Die Rebellion, die
Protestbewegungen, müssten daher an der „wahren Natur des Individuums“ Wurzel fassen […]“
Wie soll man sich das vorstellen? Kann man da im Körper des Menschen mit einem Mikroskop zwei Konstanten (Gene?) die sich bekämpfen beobachten und je nachdem wie dieser Kampf ausgeht, kommt es zur Rebellion oder sie bleibt aus?
Auch wenn Lisa in einer Anmerkung diesen Satz nicht biologisch-deterministisch verstanden wissen will, bleibt da wenig andere Interpretationsmöglichkeit. Es läuft vereinfacht analog auf das bekannte tautologische Erklärungsmuster einer Triebökonomie Freud‘s heraus, nach der hier in einer unterstellten Natur des Menschen revolutionäre oder konterrevolutionäre
Triebstruktur sich ähnlich wie bei Freud’s ES:Todestrieb versus Eros in einem innerlichen Kampf entscheidet. Im Sinne verkürzt ausgedrückt: jemand mit einem ausgeprägten biologischdeterminierten Revolutionstrieb unter beliebigen Umständen macht Revolution und umgekehrt. Die Gedanken, die sich die Leute da machen, werden in der Auseinandersetzung mit dem Modell völlig egal.
Die Übernahme falscher psychologischer Herleitungen, wie das Freud’sche Modell der im ES angelegten innerlichen Triebe Eros (Konstruktive Trieb) und Thanatus (Destruktive Trieb) wird hierbei auch in weiteren Fällen reproduziert, wie bei Marcuse dann das weibliche den Eros und das männliche den Thanatus darstellt und dieses sich über eine jahrtausendjährige Sozialisationsgeschichte bei Mann und Frau determiniert hätte. Kurzum, die Frau dann nach der vorher dargestellten Triebökonomie zum revolutionären Geschlecht idealisiert wird ohne einen logisch konsistenten Nachweis und dieses, wie schon erwähnt, fern ab abstrahiert von
gedanklichen Prozessen in den Verhältnissen ist und einfach nur noch auf dieser Erklärung biologistisch falsch Begriffen werden kann.
Fazit: Das Buch „Widerständiges Wissen – Herbert Marcuses Protesttheorie in Diskussion mit Intellektuellen der Refugee-Bewegung der 2010er Jahre“ macht es lesenswert weil es eine ignorierte Bewegung aus der Unsichtbarkeit holt und dabei eine schöne übersichtliche und verständliche Einführung in Marcuses theoretischen Erzeugnissen liefert, dabei vieles an diesen theoretischen Erzeugnissen in interessanten Debatten erweitert aber auch unabgeschlossenes Diskussionsmaterial bietet, das nur darauf wartet in schriftlichen Austausch und Diskussionsveranstaltungen fortgeführt zu werden. Das Buch ist für einen stolzen Preis von 39,00 € beim transcript Verlag zu erhalten, was meines Erachtens leider bisher noch zu teuer ist und einer weiten Verbreitung der Lektüre im Wege steht. Ein günstigeres Format, z.B. als E-Book, wäre jedenfalls wünschenswert, den lesenswert ist es allemal. / JS
[1] Der Begriff „organischen Intellektuelle“ leitet sich von Gramsci ab und bezieht sich auf Personen, welche eine organisierende Funktion einnehmen, weil sie einer Gesellschaftsklasse Homogenität und Bewusstsein der eigenen Funktion nicht allein auf ökonomischen, sondern auch auf gesellschaftlichem und politischem Gebiet verleihen. Dieser Begriff unterscheidet sich zu den Intellektuellen wie z.B. Wissenschaftler*innen die Gramsci als traditionelle Intellektuelle kategorisiert.
[2] https://www.youtube.com/watch?v=n6nav6idayE
[3] https://www.rafinfo.de/archiv/raf/konzept_stadtguerilla.php
[4] http://www.jutta-ditfurth.de/ulrike-meinhof/Die-Biografie.htm
[5] Leseempfehlung: https://www.laika-verlag.de/bibliothek/weather-underground
[6] Nach dem bewaffneten Kampf: https://www.psychosozial-verlag.de/588
[7] https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/kritik-der-psychologie-2/