„…ich darf nicht auch noch weinen.“ – Ein Lieblingsbruder wird nach Afghanistan abgeschoben

Leyla* ist 17 Jahre alt. Am 08. Juni wird ihr Bruder nach Afghanistan abgeschoben. Bei der Demonstration von Protest LEJ am selben Tag auf dem Flughafen lernten wir sie kennen und sprachen erstmals mit ihr. In den folgenden Tagen blieben wir per Messenger in Kontakt, denn zunächst blieb ihr Bruder verschwunden. Leyla telefonierte Hotels in Kabul ab und konnte ihn schlussendlich ausfindig machen. Ein paar Tage später willigte sie ein, ein Interview mit uns führen zu wollen. Ihre Mutter hat der minderjährigen Tochter das Einverständnis für das Gespräch mit uns und die anschließende Veröffentlichung gegeben. 
 

Du und ich haben uns am 8. Juni am Flughafen Leipzig/ Halle getroffen. Da wurde dein Bruder, Edris*, gerade nach Afghanistan abgeschoben. Wie geht es ihm denn jetzt?
 
Leyla: Ihm geht es gut, aber er hat gesagt, dass er sich ganz allein dort fühlt. Er hat niemanden dort. Er wohnt immer noch im Hotel und niemand besucht ihn dort. Meine Mutter hat ihm schon 200 Euro geschickt, damit er erst einmal weiter in dem Hotel wohnen kann.
 
Wie lang hat er denn in Deutschland gelebt?
 
Acht Jahre.
 
Hat er Angst, dass die Leute in Kabul erkennen, dass er so lang in Deutschland war?
 
Nein, aber es ist unsicher. Die Taliban greifen inzwischen Kabul an und haben wohl gestern schon eine Ecke der Stadt eingenommen. Deswegen dürfen die Kinder auch gerade nicht die Schule besuchen und müssen zu Hause bleiben. Weil es so unsicher ist.
 
Die NATO-Truppen ziehen sich ja gerade aus Afghanistan zurück. Was sind die Gedanken von dir und deiner Familie dazu?
 
Vielleicht gibt es noch mehr Krieg. Die meisten haben Angst vor den Taliban. Aber es gibt auch einige Menschen in Afghanistan die denken, dass die amerikanischen oder deutschen Truppen die Terroristen sind. Die wünschen sich die Taliban zurück. 
 
Seid ihr auch vor den Taliban geflohen?
 
Auch, ja. Wir sind zuerst in den Iran geflohen, da bin ich auch geboren. Meine drei Brüder und meine Schwester sind aber noch in Kabul geboren worden. Da war damals schon Krieg und meine Mutter wurde am Arm und am Kopf verletzt. Und es gibt in Kabul Menschen, die uns umbringen wollen. Keine Taliban, andere Leute, die gegen uns sind. Deswegen wollen wir uns hier auch vor ihnen verstecken.
 
Und wie versteckt sich dein Bruder?
 
Kabul ist nicht sicher. Einige Dörfer um Kabul herum sind vielleicht halbwegs sicher. Aber meine Eltern zum Beispiel kommen aus einer kleinen Stadt nahe Kabul. Und da ist es schon wieder gefährlich. Ich hatte noch einen anderen Bruder, der war 20 Jahre alt, der ist verschwunden. Wir denken, dass er gestorben ist. Das war vor dreizehn Jahren. Da war ich noch ein kleines Kind. Meine Mutter wollte immer meine Brüder beschützen. Aber bei diesem Bruder hat sie es nicht geschafft. Er wollte aus der Stadt weggehen und zu uns in den Iran kommen. Er hat sich kurz vorher noch bei meiner Mutter gemeldet, dass ihn Leute umbringen wollen. Aber dann hat er sich nie wieder gemeldet. 
 
Trotz dass ihr all das erleben musstet, wurde dein Bruder abgeschoben. Du und deine Familie habt aber eine Aufenthaltserlaubnis?
 
Ja, ich habe drei Brüder. Einer ist gestorben, einer wurde abgeschoben, einer ist in Deutschland, aber er hat auch schon die Abschiebung angedroht bekommen.
 
Wie habt ihr denn an dem Tag der Abschiebung davon erfahren, dass der Flieger in Leipzig/ Halle abhebt?
 
Mein Bruder hat mich noch anrufen können und gesagt, dass er abgeschoben wird. Ich habe im Internet gelesen, dass der Flughafen Leipzig/ Halle wird und den Rechtsanwalt angerufen. Der hat auch gesagt, dass der Flieger in Leipzig/ Halle losfliegt. Dann habe ich gesehen, dass um 19 Uhr dort eine Demo stattfindet, da sind wir dann hingefahren. 
 
Hattet ihr noch Hoffnung, dass die Abschiebung verhindert werden kann?
 
Ja, der Rechtsanwalt hatte noch gesagt, dass Edris noch einen Gerichtstermin hätte bekommen sollen. Aber Edris meinte, dass er nicht mehr bei Gericht war. 
 
Deine Mama hat auf dem Flughafen ganz stark geweint. Ich habe dich auf dem Flughafen aber ganz gefasst erlebt. Was ging dir da durch den Kopf?
 

Ich habe meine Mutter gesehen und habe mir gedacht, ich darf nicht auch noch weinen, damit sie nicht noch trauriger wird. Ich habe ihr nur gesagt: „Mama, er wird abgeschoben, das ist einfach nicht unser Land, Deutschland.“ 

 

 
Du hast mir am Flughafen gesagt, dass das der Bruder war, der dir ganz viel beigebracht hat, der eine Art Lehrer für dich war, der dir schreiben beigebracht hat.
 
Ja, er hat mir die persische Schrift beigebracht und mir gezeigt, wie ich den Koran lesen kann. Er war der einzige, der mir geholfen hat. Das ist auch der Bruder, den ich ganz sehr liebe. Meine Brüder sind alle gleich für mich, aber er ist etwas Besonderes.
 
Dein Lieblingsbruder?
 
Ja!
 
Und hast du gar keine Hoffnung, dass er nach Deutschland zurückkommt?
 
Nein, dann würde er ins Gefängnis gehen. Außerdem darf er für fünf Jahre Deutschland nicht mehr betreten. Meine Mutter meinte damals, wir müssen mit dem Flugzeug nach Deutschland kommen. Aber das hat nicht geklappt, wir hätten uns trennen müssen. Also sind wir dann zu Fuß gegangen, um wenigstens zusammenbleiben zu können. Denn wenn wir uns getrennt hätten, dann hätten wir nicht gewusst, ob wir uns wiederfinden. Aber jetzt sind wir doch getrennt.
 
Und will dein Bruder nun in die Türkei fliehen?
 
Naja, das kostet. Wir können das nicht bezahlen. Meine Schwester macht eine Ausbildung, mein anderer Bruder arbeitet auch, mein Vater lernt gerade noch Deutsch, ich gehe noch zur Schule. Aber die Flucht ist zu teuer.
 
Wie viel würde das kosten?
 
Ungefähr 4.000 Euro.
 
Nun sagst du, deinem anderem Bruder droht auch die Abschiebung. Seid ihr da mit einem Anwalt in Kontakt?
 
Ja, da ist noch eine Klage offen. Dadurch kann er nicht abgeschoben werden, sagt der Anwalt. Aber wir können ihm nicht mehr vertrauen [An dieser Stelle erfolgt ein Hinweis auf Asyl-Beratungsstellen in Leipzig, es wird vereinbart, dazu in Kontakt zu bleiben.]
 
Und du als jüngste Schwester bist diejenige in der Familie, die sagt, sie darf nicht weinen, sie muss die anderen trösten.
 
Meine Mutter liebt die Jungs, denn sie haben viel erlebt. Meine Schwester und ich sind nicht so anstrengend
 
Habt ihr euch denn im Iran sicher gefühlt? 
 
Im Iran war es auch nicht sicher, denn immer waren wir die Ausländer und durften dort nichts sagen. Im Iran hatten wir auch keine Rechte, obwohl meine Eltern im Iran einen Aufenthaltstitel hatten. Nur ich hatte keinen, denn ich hatte keine Geburtsurkunde.
 
Weil du im Iran geboren wurdest?
 
Ja, leider [lacht]. Deswegen durfte ich dort auch nur die erste Klasse besuchen, danach durfte ich nicht mehr zur Schule gehen.
 
Ok, und deswegen hast du keine Tazkira [ein afghanisches Identitätsdokument]?
 
Genau, aber inzwischen habe ich eine. Wenn ich erst einmal 18 bin, dann kann ich vielleicht irgendwann einen deutschen Pass beantragen. Aber erst einmal muss ich eine Ausbildung machen.
 
Und deshalb durftest du nicht in die Schule gehen und da hat dir dein Bruder dann Lesen und Schreiben beigebracht?
 
Ja, denn als ich klein war, war mein größter Wunsch, in die Schule gehen zu dürfen. 
 
Was möchtest du heute gern werden?
 
Apothekerin! Dafür mache ich jetzt meinen Hauptschulabschluss und danach hole ich meinen Realschulabschluss in der Abendschule nach.
 
Und warum Apothekerin?
 
Als ich zehn Jahre alt war, da haben die immer gesagt, ich soll Ärztin werden. Aber ich mag irgendwie mit chemischer Arbeit zu tun haben und deswegen finde ich Apothekerin gut.
 
Mir ist gerade noch eingefallen, dass du am Flughafen meintest, dass du hier in Deutschland eigentlich niemanden vertraust, auch in der Schule nicht.
 
Ja, das ist allgemein so. Ich bin immer zu Hause und allein. Schon im Iran durfte ich nicht rausgehen, außer als ich in der ersten Klasse war. Da war ich immer zu Hause und hab mit meiner Mutter geredet. Durch alles was passiert ist, habe ich immer Angst gehabt. Ich habe meine Mutter gefragt, warum ich nicht mit den anderen Mädchen spielen darf und sie hat immer gesagt, dass es nicht sicher für mich ist. Sie will nicht, dass ich auch verschwinde. Es gibt eben diese Leute, die uns umbringen wollen, die waren auch im Iran. Ich habe dann meiner Mutter immer bei der Hausarbeit geholfen.
 
Und deshalb hast du noch heute so ein Misstrauen?
 
Ja, wäre ich mit meinen Geschwistern in die Schule gegangen, dann hätten wir zusammen Hausaufgaben machen können und wir hätten was zusammen gegessen. Aber ich kann jetzt schreiben und lesen, ich kann aber nicht zeichnen.
 
Liest du heute viel?
 
In letzter Zeit nicht mehr so viel, aber grundsätzlich schon. Ich lese am liebsten alte Geschichten. 
 
Auf Persisch oder auf Deutsch?
 
Nee, jetzt auf Deutsch [lacht].
 
Ok, möchtest du noch was sagen?
 
Nee, ich glaub das wars.
 
Dann Dankeschön!
 
Nach dem Gespräch unterhielten wir uns noch eine Weile. Leyla erzählte, wie sie drei Mal versuchten, über das Meer nach Europa zu gelangen. Beim dritten Mal wollten die Schlepper plötzlich das Boot versenken. Da war sie acht Jahre alt und dachte, dass sie nun sterben werde. Ihre Familie erreichte dennoch die Küste, „obwohl ich noch nicht schwimmen konnte“, sagt sie. Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie am Mittelmeer geblieben. Dort gefiel es ihr. 
 
*Namen geändert.
 
/MG