Letzten Freitag, den 21. November 2025, hat die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) die knapp 250 Leipziger Beschäftigten von Lieferando zum Warnstreik aufgerufen. Von 13:00 bis 00:00 Uhr legten die Kuriere die Arbeit nieder. Hintergrund sind die seit 2021 bestehenden Tarifforderungen sowie die Angst vor Arbeitsplatzabbau nach der Übernahme durch die Investmentgesellschaft Prosus. Wir sprachen vor Ort mit dem Betriebsrat über die Beweggründe.
Wer seid ihr und warum seid ihr heute hier?
Richard: Ich bin Richard, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, und seit etwa anderthalb Jahren im Betriebsrat. Bei Lieferando arbeite ich seit knapp fünf Jahren. Ich habe mich schon immer für Arbeitskampf interessiert, und in den letzten Jahren wurde immer deutlicher, wie wenig wir Lieferando eigentlich wert sind. Deswegen ist es unglaublich wichtig, dass wir uns organisieren und zusammenstehen. Das findet heute seinen Höhepunkt im Streik – darauf habe ich richtig Bock.
Jacob: Ich bin Jacob, gefühlt schon immer Fahrradkurier und frisch gewähltes Betriebsratsmitglied. Wir haben heute hier in der Villa in Leipzig eine Betriebsversammlung durchgeführt. Anschließend hat die Gewerkschaft zum Streik aufgerufen. Wir tun das, weil sich die Arbeitsbedingungen bei Lieferando immer weiter verschlechtern oder zumindest die Gefahr besteht. In der gesamten Essenslieferbranche wird sehr viel mit Subunternehmern und prekären Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet. Dagegen und für bessere Bedingungen gehen wir heute auf die Straße.
Der Presse war zu entnehmen, dass für einen höheren Mindestlohn sowie Sonn- und Feiertagszuschläge gestreikt wird. Diese Forderungen bestehen doch schon länger, oder? Worum geht es heute genau?
Richard: Genau, die Tarifforderungen der NGG sind mittlerweile fast vier Jahre alt. Sie stammen noch aus einer Zeit, als der gesetzliche Mindestlohn bei etwas über zehn Euro lag. Lieferando ist bis heute nicht darauf eingegangen. Die Forderungen sind nach wie vor: 15 Euro Einstiegsgehalt, dazu kommen Zuschläge für „Peak-Zeiten“ ab 17 Uhr, für Wochenenden, Feiertage und schlechtes Wetter. Und ganz wichtig: sechs Wochen Urlaub.
Jacob: Den Urlaubspunkt möchte ich kurz hervorheben, das ist eine essenzielle Frage.
Richard: Auf jeden Fall, das vergisst man neben dem Geld oft. Lieferando hat Verhandlungen dazu immer abgelehnt. Jetzt ist die Lage aber noch akuter, weil viele betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden – circa 2.000 waren im Sommer angekündigt. Leipzig ist zum Glück nicht so sehr betroffen, aber wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Ein Tarifvertrag mit Standortsicherung wäre daher sehr hilfreich.
Gegenüber Mitbewerbern wie Uber Eats oder Wolt galt Lieferando bislang oft als das „geringere Übel“, weil sie auf direkte Anstellung setzen. Kürzlich wurde Lieferando jedoch für über 4 Milliarden Euro von einem Investmentkonsortium übernommen. Die Schlagrichtung scheint sich zu ändern.
Jacob: Es ist natürlich etwas Spekulation, aber wir haben das Gefühl, dass Lieferando gerade auf beiden Seiten mitspielen will. Es steht die Umsetzung der EU-Plattformrichtlinie an, die bis November 2026 in nationales Recht übertragen werden muss. Diese könnte ein Gebot zur Direktanstellung vorsehen.
Lieferando scheint jetzt einerseits das zu machen, was die anderen tun – also salopp gesagt auf deutsches Arbeitsrecht zu pfeifen –, sich aber gleichzeitig die Strukturen der Direktanstellung offenzuhalten, falls die Richtlinie streng umgesetzt wird. Statt ihren Einfluss als Marktführer mit rund 75 Prozent Marktanteil zu nutzen, um für ein generelles Direktanstellungsgebot in der Branche einzutreten, fahren sie diese Doppelstrategie.
Was genau kann man sich unter dieser Plattformrichtlinie vorstellen?
Jacob: Die Richtlinie der Europäischen Kommission soll die Arbeitsbedingungen verbessern. Ein Kernpunkt ist die sogenannte Beweislastumkehr. Wenn man heute Dienstleistungen über eine Plattform bestellt – sei es Essen oder Handwerker –, werden oft formal Selbstständige geschickt. Die Richtlinie würde die Beweislast umkehren: Man geht erst einmal davon aus, dass die Leute für die Plattform fest angestellt sind. Die Plattform müsste das Gegenteil beweisen. Das könnte dazu führen, dass Scheinselbstständigkeits-Modelle, wie sie teilweise bei Uber oder Wolt existieren, in Deutschland illegal werden.
Es steht noch ein wichtiger Termin beim Bundesarbeitsgericht (BAG) aus. Könnt ihr dazu etwas sagen und ob das mit dem aktuell härteren Kurs zu tun hat?
Jacob: Dabei geht es um die sogenannten Betriebszuschnitte. Lieferando und die Betriebsräte haben unterschiedliche Auffassungen davon, was ein „Betrieb“ ist. Da wir in vielen Städten keine Büros haben – oder wie in Leipzig ein Büro, das für viele Städte zuständig ist –, ist für die Fahrer der eigentliche Chef die App auf dem Telefon. Wir Betriebsräte sagen: Alle, die in Leipzig arbeiten, sind der Betrieb Leipzig. Lieferando vertritt die Auffassung, dass Betriebsräte nur dort gewählt werden können, wo es ein physisches Büro für die jeweilige Region gibt. Das würde bedeuten, dass viele Betriebsräte in ihrer jetzigen Form nicht weiter existieren könnten.
Könnte die aktuelle Schließungswelle von Standorten also auch ein Versuch sein, dieses kommende Urteil zu torpedieren?
Jacob: Man kann sich zumindest darüber wundern, dass Städte, die von Schließungen betroffen sind, aktive Betriebsräte haben. Das Urteil wird im Januar erwartet.
Richard: Es ist schwer, das alles kurz zu fassen, weil die Struktur so komplex ist.
Jacob: Das Problem ist, dass die deutsche Rechtsprechung so etwas eigentlich nicht vorsieht. Unser „Chef“ ist faktisch die App. Wir haben vor Ort niemanden in einer echten Leitungsfunktion. Das macht die arbeitsrechtliche Situation so schwierig.
Auf kreuzer Leipzig erschien ein Hintergrundbericht zum Streik. Die LVZ sprach mit Beschäftigten.
Updates und Anregungen in der LA-PRESSE.ORG Telegram Gruppe.

