Rahel

Die Familie von Rahel, war nach Kriegsausbruch eine der letzten intakten Familien in der Gemeinde. Sie übernahm die Freiwilligenarbeit in der Synagoge. Ebenso half die bei der Evakuierung von Jüdinnen und Juden mit Rabbi Moshe Reuven Azman. Sie ist Mitglied der Territorialverteidigung und stünde an der Front – wenn da nicht ihr jüngster Sohn Äjtan (5) wäre.


Ein Interview mit Rahel erschien, redaktionell bedingt, verkürzt beim Leipziger Stadtmagazin kreuzer. Hier das komplette Interview:

Juden im Krieg

Wir trafen Rahel Strugazkaja mit ihrer Familie in der Brodsky-Synagoge. Sie war in der Gemeinde, eine der letzten intakten Familien zu Kriegsausbruch und übernahm dort die Freiwilligenarbeit in der Synagoge. Ebenso half die bei der Evakuierung von Jüdinnen und Juden mit Rabbi Moshe Reuven Azman. Er ist seit 2015 Oberrabbiner der Ukraine.


Rahel, wir begleiteten eine Freiwilligenorganisation dabei, wie sie Güter aus der Synagoge abholt. Dabei treffen wir nun auf dich. Was machst du hier?
Vor dem Krieg war ich ein normaler Gast der Synagoge. Bedeutet, ich bin zum Shabbat und bürgerlichen Feierlichkeiten gekommen. Während des Krieges hat es sich so ergeben, dass wir die einzige Familie gewesen sind, die hier geblieben ist. So kam es, dass wir die Rolle der Freiwilligenarbeit übernahmen.

Wie ist das organisatorisch zu verstehen? Sprichst du für die Synagoge?

Ich kann eure Antworten nur als Privatperson beantworten.

Wie hast du das jüdische Leben in Kyiv oder der Ukraine vor dem Krieg wahrgenommen?

Wir grade deswegen hier geblieben, weil wir uns hier Zuhause fühlen. Wir wollen nirgendwo Migranten oder Fremde sein. Vor dem Krieg arbeitete ich als Lehrerin im Heder. Heder, das ist eine religiöse Schule für kleine Jungen. [Anm. d. Red. Je nach Ausrichtung können auch kleine Mädchen dort lernen] In derselben Schule war auch unser kleinster Sohn Äjtan (5). Zwei ältere Kinder haben eine bürgerlichen Schule absolviert. In der bürgerlichen Schule gab es nie ein Problem damit, dass sie Samstags die Schule nicht besuchten. Dort gab es regulären Samstagsunterricht. Wir, als jüdische Familie, halten uns an die jüdischen Regeln. Es war kein Problem, dass unsere Kinder religionsbedingt, Samstags nicht in der Schule erscheinen konnten. Die ältere Tochter studiert am Konservatorium. Dort ist Samstags auch regulärer Unterricht und es ist ebenfalls kein Problem, dass sie Samstags nicht erscheint. Gleiches gilt auch für religiöse Feierlichkeiten. Wir haben drei Kinder. Sie haben noch nie Diskriminierung bezüglich ihres Glaubens erfahren. Dabei ist zu vermerken, dass unser ältester Sohn Meir Dan (16) die jüdische Tracht trägt. 

Vor einem Monat hat unsere Tochter Adell (20), vom Dach der Synagoge ein Geigenkonzert gegeben. Vielleicht wird das noch auf dem Youtube Kanal eingebunden. 

Was hat sich durch den Kriegsausbruch für das jüdische Leben in Kyiv verändert?

Wir hatten anfangs große Angst. Wir hatten nicht mit diesem Verlauf gerechnet. Wir hätten uns eher vorstellen können, dass russische Streitkräfte einfach in die Stadt einlaufen. Was nun bekannt wurde, sprengt unsere Vorstellungskraft. 

Der schlimmste Moment war, als der Rabbiner die Tora-Rollen aus der Synagoge getragen hat. Wenn die Tora die Synagoge verlässt, bedeutet das, dass das jüdische Leben aufhört. Vor dem Krieg gab es etwa 200.000 Jüdinnen und Juden in der Stadt. Aktuell sind es einzelne Personen. In der Regel ältere Personen, welche die Stadt nicht verlassen konnten. Zum Teil sind es auch Rückkehrer und Geschäftsleute, die versuchen ihre Geschäfte aufrecht zu erhalten.

Besonders bitter ist, dass acht Jahre vor dem Krieg eine kleines Städtle namens Anatevka, in der Nähe von Kyiv entstanden ist. Dort gab es drei Schulen. Eine für Jungs, Mädchen und eine gemischte Schule. Dort fand ein jüdisches Leben statt, wie es sich gehören würde. Das existiert nicht mehr. Damit hat Putin das erreicht, was sogar damals Hitler nicht erreicht hat. Größtenteils waren die Bewohner von Anatevka jene, die bereits aus dem Donbas flohen. Jetzt sind sie zum zweiten Mal Flüchtlinge geworden.

Wie sieht aktuell der Alltag für euch aus?

Heute ist es deutlich ruhiger als am Beginn des Krieges. 

Am 06. März, als das ganze hier begann, als es große Ströme von Flüchtlingen gab – vor allem aus Chernikov und Umgebung wo schwere Kämpfe stattfanden. Ich komme daher und pflege noch viele Verbindungen dorthin. Mit jeder Welle der Flüchtlinge kamen Menschen die ich kannte. Erst mit der letzten Welle kamen meine Eltern.

Wir haben bis zu vierhundert Menschen täglich aufgenommen. Mehrere Busse brachten von hundertfünfzig bis dreihundert Menschen auf einen Schlag hier in die Synagoge. Sie wurden hier ernährt, haben eine Übernachtungsmöglichkeit bekommen und wurden von hier weiter evakuiert. Darunter waren viele Menschen in schlechtem Zustand. Da sie länger in den Kellern ausharren mußten – ohne Wasser, ohne Strom. Hier gab es Medikamente und Erste Hilfe. Auch mit Kleinkindern und Babies. Hier gab es Kindernahrung und Windeln. 

Für Schwerverletzte hat der Rabbi Liegendtransporte mit Bereitschaft, also Intensivtherapie organisiert.

Heute kommen wir durchschnittlich um 8 Uhr morgens. Wir wohnen hier in der Nähe. Es gibt heute keine Flüchtlingsströme mehr aber wir werden von unterschiedlichen Organisationen kontaktiert, die unsere Hilfe benötigen. Unser Rabbi Moshe Azman hilft allen und spricht alle an, die Hilfe benötigen – Nahrung, Medikamente und persönlichen Kontakt. Es gibt Menschen die in finanzieller Not sind oder kein Dach über dem Kopf haben. Auch die bekommen von ihm Unterstützung.

Zum Beginn des Tages machen wir Frühstück für alle, die in der Synagoge sind. Zudem machen wir Essen für die Menschen der Territorialverteidigung sowie denen an den Checkpoints. Die Essen werden dahin geliefert. Zudem werden täglich Einzelpakete für Bedürftige – vor allem Ältere – vorbereitet. Nicht nur für Gemeindemitglieder. Auch Menschen anderer Gemeinden oder ohne Gemeindezugehörigkeit.

Wie viele Gemeinden gibt es in Kyiv?

Es gibt insgesamt sechs Gemeinden. Möglicherweise gibt es mehr – es kommt darauf an, wie man den Begriff Gemeinde interpretiert.

Unsere Fragen sind durch die existierenden Vorurteile in der deutschen Bevölkerung zu verstehen. Dort herrscht teilweise die Meinung vor, dass es in der Ukraine nationalistische Kräfte gibt, die Druck gegen die eigene Bevölkerung ausüben. 

Ich bin Staatsbürgerin von Israel. Ich kehrte 1999 in die Ukraine zurück und lebe seitdem konstant hier. Meine Kinder wurden hier geboren. Es hat uns niemand daran gehindert unsere Feierlichkeiten auszuüben. Teilweise waren dazu bis zu 500 Menschen hier anwesend. Der jeweils amtierende Präsident hat zu diesen Feierlichkeiten immer die Gemeinde begrüßt. Im Parlament gibt es reichlich Abgeordnete, die jüdischer Abstammung sind. 

Das war zu Sowjetzeiten ganz anders. Heute ist es keine Frage mehr ob ein nicht christlicher Mensch eine Hochschule besuchen oder eine gehobene Position innehaben könnte. Jeder trägt seine nationale Zugehörigkeit mit stolz – nicht nur in der Gemeinde.

Es gibt ein jüdisches Fest Ende Mai, Anfang Juni. Es ist üblich dort einen feierlichen Zug durch die Straßen zu machen. All die dreihundert Kinder aus Anatevka nehmen an diesem Zug an der Zentralstrasse in Kyiv teil und wurden immer freundlich empfangen.

Zwei Meiner Kinder sind in bürgerlichen Schulen und dort gibt es keine Probleme. Das hatte ich schon erwähnt.

In Deutschland fallen zu nationalistischen Kräften öfter zwei Namen. Asow und Corpus National. Hast du davon schon was gehört?

Ich bin Mitglied des Corpus National [Sie legt einen Ausweis der Territorialverteidigung auf den Tisch]. In meiner zweiten Ausbildung bin ich Krankenschwester. In den ersten Tagen nach Kriegsausbruch war ich dort tätig. Obwohl ich keine doppelte Staatsbürgerschaft habe, fühle ich mich als Staatsbürgerin der Ukraine. 

Wenn es das Kleinkind nicht gäbe, dann wäre ich jetzt an der Front. Die Vorstellung davon, dass das Regiment Asow oder Corpus National irgendwelche extrem nationalistischen Vorstellungen transportiert ist irrsinnig und falsch. Die Menschen von Asow oder Corpus National sind so gleich wie ich, mein Mann oder meine Kinder. Ich sehe keinen Unterschied zwischen ihnen und mir selbst.

Entschuldige, ich verstehe das nicht. Was ist die Gemeinsamkeit von einer aktiven, jüdischen Frau in der Synagoge und Asow und Corpus National?

[Es wird hektisch. Rahels Mann Natan ergreift das Wort] Nationale Bewegungen in der Ukraine sind nicht gegen andere Nationalitäten in der Ukraine. Das ist eine Bewegung der Selbstidentifikation des Ukrainischen Volkes. Heutzutage besteht das ukrainische Volk aus unterschiedlichen Nationalitäten. In Russland wird das nie verstanden. Der Westen sollte verstehen, dass die nationale Bewegung in der Ukraine, keineswegs die nationale Bewegung der Ukrainer gegen andere Bestandteile der Ukrainer sind. Das ist eine Bewegung des ukrainischen Volkes für die eigene Unabhängigkeit, die eigene Selbstidentifikation und keineswegs gegen eigene Bestandteile.

Eine Art positiver Nationalismus?

[Rahels Mann Natan behält das Wort] Ich habe gelernt Jude zu sein, weil mir Ukrainer das beigebracht haben. 1989 fing ich ein Studium am pädagogischen Institut an. Das war der Beginn des Zerfalls der Sowjetunion. Welcher 1991 sein Ende nahm. Kyiv war seinerzeit eine russischsprachige Stadt. In meiner Studierendengruppe gab es ein Mädchen aus dem Westen des Landes. Sie sprach perfekt, literarisch Ukrainisch. Der Rest der Gruppe war russischsprachig aus Kyiv. Die Gruppe mochte sie sehr. In einer bestimmten Situation fragte ich sie „Siehst du nicht, dass wir hier alle Russisch sprechen? Warum sprichst du kein Russisch?“ und sie erwiderte „Wer bist du und was für eine Nationalität hast du?“ – Ich antwortete, dass ich Jude sei. Sie fragte daraufhin „Bist du stolz darauf Jude zu sein?“. Auf mein Nicken erwiderte sie: „Ich bin stolz darauf Ukrainerin zu sein und dabei bin ich sehr begnügt mit dir zu sprechen“

In seiner ersten Rede im Parlament sagte der amtierende Präsident „Ukrainer sein, das ist im Herzen und nicht im Pass.“ Wenn der Westen verstehen würde, dass sich unter dem Begriff „Ukrainer“ Menschen jedweder Herkunft befinden, die friedlich beieinander leben, dann würde die Frage nach negativ gelesenem Nationalismus nicht aufkommen.

Womit können Menschen euch unterstützen?

[Rahel übernimmt wieder die Antwort] Die Tora ist inzwischen in die Synagoge zurückgekehrt. Auch das Mindestmaß an Betenden, zehn Männer, sind wieder vorhanden. Die braucht es um religiöse Rituale vollziehen zu können.

Hilfsgüter die hier ankommen, bleiben nie lange liegen. Auch wenn die Kampfhandlungen abgenommen haben, wird die Bedürftigkeit anhalten oder eher zunehmen. Da ich hier als Privatperson sitze, lass uns den gleich den Rabbi fragen.

Wir treffen auf dem Weg aus der Synagoge Rabbi Moshe Reuven Azman. Er verweist auf die Spendenseite des Dorfes Anatevka. „Damit werden Unterkünfte, Lebensmittel, Kleidung, Schuhe, Heizungsanlagen, medizinische und persönliche Bedürfnisse finanziert. „

Webseite von Anatevka: https://www.anatevka.com 

Der Beitrag ist Bestandteil der Ausstellung Kriegstouristen.